Wie so oft haben Wilhelm Buschs (1832-1908) aphoristische Reime auch in „Schein und Sein“ (hier zit. nach Friedrich Bohne (Hrsg.), Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 4, Wiesbaden-Berlin 1960, S. 393) einen tieferen Sinn. Was auch immer wir in der Welt antreffen, will Deutschlands bekanntester humoristischer Dichter und Zeichner und Zeitgenosse Bismarcks uns sagen: nichts ist so wie es scheint.
Der nicht selten schopenhauerisch düstere Niedersachse Busch schneidet damit ein grundlegendes philosopohisches Problem an. Denn hinter „Schein und Sein“ verbirgt sich die Frage nach dem Verhältnis von Oberfläche und tatsächlichem Gehalt, also dem wahren Inhalt der Dinge, den eigentlichen Absichten der Menschen. Sprachwissenschaftlich unterscheidet man zwischen Thema und Rhema, d.h. demjenigen, über das etwas gesagt wird, und demjenigen, was darüber gesagt wird. Und letzteres kann je nach subjektiver Betrachtung sehr vielgestaltig sein. Denn selten steckt in dem zu küssenden Frosch nur der eine verzauberte Prinz oder man erkennt wie Laokoon in der Aeneis in dem Trojanischen Pferd die versteckten Danaer/Griechen („Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes“). Oft steht man ratlos vor einer blendenden Fassade und ahnt nicht, was sich dahinter verbirgt. Und wenn, dann kann man den Verdacht nicht konkretisieren, oft sind die Vermutungen vielfältig und kein einfacher Lösungsansatz führt zu der einzig richtigen Interpretation.
Solche stichhaltigen Interpretationen komplizierter Probleme trauten die Anhänger Preußen-Deutschlands ihrem Helden Bismarck fast uneingeschränkt zu. In ihren zeitgenössischen Augen war der Ministerpräsident und Reichskanzler innen- und außenpolitisch ein glänzender politischer Analytiker. Wenn ihm mal etwas schief ging, etwa das vorsichtige prorussische Vorfühlen im Rahmen der „Mission Radowitz“, blieb es der Öffentlichkeit häufig verborgen oder Bismarck verstand es, mit anderen, von seinen Apologeten stets als „weitsichtig“ titulierten Taten davon abzulenken.