Kalenderblatt: „Das Bundeskanzleramt im Felde“
Als Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, preußischer Ministerpräsident und Außenminister war Otto von Bismarck Leiter der zentralen zivilen politischen Entscheidungsinstanzen und damit Angehöriger des Großen Hauptquartiers, der mobilen strategischen Kommandozentrale des preußischen Heeres und der Streitkräfte der verbündeten süddeutschen Staaten im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Daher befanden sich Bismarck und seine ihn begleitenden Mitarbeiter während des gesamten Feldzugs in unmittelbarer Nähe Wilhelms I. sowie des preußischen Generalstabs. Je nach Standort des Großen Hauptquartiers musste auch für das „Bundeskanzleramt im Felde“ eine Unterkunft gefunden werden, die häufig nur den einfachsten Ansprüchen genügte. Während dem „Chef“ (Bismarck) in der Regel ein eigenes Arbeits- und Schlafzimmer zur Verfügung stand, mussten sich dessen Begleiter nicht selten Räumlichkeiten teilen, in denen gearbeitet, gegessen und geschlafen wurde. Die Gesamtzahl der Personen des mobilisierten Bundeskanzler- und Auswärtigen Amts betrug zum Ende des Krieges um die zwanzig Mitarbeiter, angefangen von den Räten bis hin zu den Kanzleidienern.
Ein Beamter aus dem Stab Bismarcks schildert in der Zeitschrift „Über Land und Meer“ (Band 25, Nr. 14, 1871, S. 11) die Einschränkungen während eines Aufenthalts des Großen Hauptquartiers in einer nicht namentlich genannten kleinen Ortschaft in den Argonnen. Das Bundeskanzleramt wurde mit dem Generalstab in einer Jungenschule untergebracht, wo Bismarck einen Raum im 1. Stock bezog, während seine Mitarbeiter im Schlafraum der Schüler im 2. Stock einquartiert wurden. Fehlendes Mobiliar wurde herbeigeschafft oder notfalls selbst zusammengebaut, Betten waren „ein überflüssiger Luxus“. Froh konnte schon sein, wer auf einem Strohsack nächtigen durfte; an ausreichend Schlaf war angesichts der Umstände ohnehin nicht zu denken. Ein Waschbecken musste für alle Anwesenden reichen. Es herrschte eine „malerische Unordnung“, denn „offene Koffer und Reisesäcke, Kanzleimappen, am Boden liegende Briefcouverts, Papier, Papierstücke, Strohhalme“ lagen verstreut herum. Während der Raum ständig von Feldjägern, Kurieren, Briefträgern, Offizieren sowie anderen Besuchern frequentiert und dauernd Gespräche geführt wurden, mussten Bismarcks Mitarbeiter die Ruhe bewahren und gleichzeitig Depeschen verfassen sowie Instruktionen, Telegramme oder Zeitungsberichte bearbeiten, kopieren, chiffrieren und dechiffrieren. In diesem Gewimmel zeigte sich nach Ansicht von zeitgenössischen Beobachtern Bismarcks Stärke, auch unter widrigsten Umständen umgehend auf neue Entwicklungen reagieren und rasch die notwendigen politischen Entscheidungen treffen zu können. Als Ausgleich für die massiven Einschränkungen und Belastungen für seine Mitarbeiter war der „Chef“ bemüht, wenigstens für ausreichend Speisen und Getränke zu sorgen. Wurde der Standort gewechselt, folgten Bismarck und sein Stab gewöhnlich in mehreren Kutschen, manchmal auch zu Pferd, dem Wagenzug des preußischen Monarchen.
Ein Künstler mit Namen Otto Wisnieski hat die geschilderte Szenerie bildlich festgehalten. Die Zeichnung wurde in der oben erwähnten Zeitschrift veröffentlicht. Der hier präsentierte Farbdruck basiert vermutlich auf Wisnieskis Bild. Der kolorierte Druck aus dem 1838 gegründeten Verlag von Hermann Oeser zeigt Otto von Bismarck an einem Holztisch sitzend, ein Dokument in den Händen haltend. Die oben geschilderte Unordnung ist deutlich zu erkennen, ebenso die Geschäftigkeit von Bismarcks Mitarbeitern. Der Gesamteindruck gleicht der Zeichnung Wisnieskis, wenn auch die Gesichtszüge und manche Einzelheiten auf der kolorierten Lithografie von der Vorlage abweichen.