Der frühe Mythos – Der österreichische Blick auf Bismarck
Die Uhren der österreichischen Erinnerungskultur tickten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Hinsicht schneller als bei den reichsdeutschen Nachbarn: Otto von Bismarck wurde in den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie schon bald nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 zum Fixpunkt einer ganz eigenen Wahrnehmung der politischen Entwicklungen und damit zum Mythos. Diese These stellte Tobias Hirschmüller M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, bei seinem Vortrag gestern im Historischen Bahnhof Friedrichsruh auf.
Hirschmüller definierte seinen Begriff des Mythos als ein geschichtstheoretisches Modell für eine lebende Person, die in der Öffentlichkeit als „Überfigur“ konstruiert wird. Für den österreichischen Blick auf Bismarck seien seit 1866 zwei kohärente Narrationen festzustellen, erläuterte der Historiker unter Hinweis auf die dortige deutschsprachige Presse jener Zeit, eine der Bismarck-Gegner und eine weitere seiner Befürworter. Die Erzählung der letzteren unterscheidet sich deutlich von dem reichsdeutschen Bismarck-Mythos, hatte dieser doch seinen Ausgangspunkt erst in der Reichsgründung von 1871 gefunden und seinen Aufschwung vor allem nach der Entlassung des ersten Reichskanzlers aus seinem Amt genommen. Seinen letzten Höhepunkt erlebte der Bismarck-Mythos im Deutschen Reich dann im Ersten Weltkrieg.
In den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie waren sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegner und Anhänger Bismarcks zwar einig in ihrer Einschätzung, dass dieser der politisch entscheidende Akteur sei. Die Bewertungen aber über den Deutschen Krieg 1866, der mit der Schlacht von Königgrätz entschieden wurde, fielen ebenso auseinander wie die Meinungen über die Frage, ob alle Deutschen – einschließlich der Österreicher – vereint sein sollten oder nicht. Von den Anhängern Bismarcks sei der 1815 gegründete Deutsche Bund rückbildend verklärt, so Hirschmüller, und der Deutsche Krieg 1866 als „Bruderkrieg“ bedauert worden. In der bürgerlich-liberalen „Neuen Freien Presse“ sei nachzulesen gewesen, dass man Preußen ohne Hass nachblicke.
Um die öffentliche Meinung widerspiegeln zu können, hat Hirschmüller die deutschsprachige Presse jener Zeit vor allem anlässlich dreier wiederkehrender Daten ausgewertet: zum Geburtstag Bismarcks am 1. April, zum Tag der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli sowie zum 30. Juli, dem Todestag. Als besonders bemerkenswert erschienen ihm vor allem die Berichte über die Feiern anlässlich des Jahrestages der Schlacht, die eher wie Siegesfeiern anmuteten, obwohl doch die Habsburgermonarchie verloren hatte.
Heute sei in Österreich die einstige Bismarck-Begeisterung völlig vergessen – selbst in der einstigen Hochburg, der Steiermark, aber auch in Kärnten und in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens. Nicht völlig aus dem Gedächtnis verschwunden sei aber die Schlacht von Königgrätz, zumindest dort, wo sie einst stattgefunden habe, so Hirschmüller: Habe man im damaligen Böhmen noch darüber geklagt, zum Kriegsschauplatz gemacht worden zu sein, so sei 150 Jahre später dort an das historische Geschehen erinnert und Szenen der Schlacht nachgestellt worden – nicht von Deutschen und Österreichern, sondern von geschichtsinteressierten Tschechen.