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Bismarcks fast ausgefallener 100. Geburtstag zwischen den Fronten
Was hätten das für Feiern werden können? Am 1. April 1915 wäre für die Bismarck-Deutschen ein einmaliger Nationalfeiertag gewesen, für den vielleicht sogar Wilhelm II. schulfrei gegeben hätte. Und wenn nicht, dann hätten die protestantischen Studienräte zwischen Rheinland und Ostpreußen ihren Schülern auf eigene Faust einen patriotischen Frühlingstag verordnet. Ergreifende Reden und stolze Lieder wurden zwar wie geplant landauf, landab vorgetragen, aber unter völlig anderen Bedingungen.
Bismarcks 100. Geburtstag war langfristig vorbereitet worden. Neue Bismarcktürme waren errichtet, vorhandene herausgeputzt worden, der Bau eines Bismarck-Nationaldenkmals war beschlossene Sache, Historiker und Publizisten saßen über den Manuskripten neuer Biographien über den Reichskanzler und eine ganze Kitschartikel-Industrie bereitete sich auf den reißenden Absatz von Aschenbechern, Rasierklingen und Wandtellern mit dem Antlitz des Verehrten vor. Doch dann befand sich das Deutsche Reich seit August 1914 in jenem Krieg, den der verklärte “Alte” immer hatte vermeiden wollen. Ob er es 1914 überhaupt gekonnt hätte? Diese Frage beantwortete die Mehrheit der Deutschen mit einem deutlichen Ja. Die Einwände der Sozialdemokraten, einiger Zentrumsangehöriger und Linksliberaler wurden von einem Hurra-Patriotismus übertönt, der seit dem letzten Lebensjahrzehnt Bismarcks eigenartige Formen angenommen hatte.
Personenkult im Ersten Weltkrieg
Der Kanzler ohne Amt hatte nach seiner Entlassung maßgeblich zur Ausbildung einer kultischen Verehrung seiner Person beigetragen, die später treffend „Bismarck-Mythos“ genannt wurde. Was auch immer Wilhelm II. und seine Kanzler unternahmen, bis zu seinem Tod 1898 wusste Bismarck es besser, und danach waren es seine Exegeten, die ihn und ihm zugeschriebene Argumente gegen die Welt- und Tagespolitik des Kaisers ins Feld führten. Wie für keinen anderen Politiker seiner Zeit entwickelte sich um den „Eisernen Kanzler“ ein Personenkult, der den Vergleich mit den Diktatoren des 20. Jahrhunderts nicht zu scheuen braucht. Mit einem gravierenden Unterschied: Er war nicht staatlich verordnet und finanziert, sondern speiste sich aus den Wünschen und Vorstellungen breiter Bevölkerungsschichten des wilhelminischen Deutschlands. “Bismarck” wurde in den Projektionen breiter Kreise zu einem vielgestaltigen Narrativ, das als historischer Gegenentwurf den kaiserzeitlichen Alltag begleitete und dort Trost, Sinn und Zuversicht spendete, wo die Gegenwart unangenehm und die Zukunft unsicher erschien.
Bismarcks Geburtstag wurde ein inoffizieller Feiertag im Kalender der patriotischen Deutschen. Wie reagierten diese nun auf die Herausforderung des Weltkriegs? Welche Feiern fanden statt, welche nicht? Welche Formen der Ehrung waren unter den Bedingungen des Krieges möglich? Wie reagierten die Souvenirhersteller auf die einsetzende Rohstoffbewirtschaftung? Wie gingen die deutschen mit ihrer nationalen Überfigur um, als das von ihm geschaffene Reich vor seiner bisher ärgsten Bedrohung stand. Diese Fragen hat man sich zeitgenössisch nicht gestellt. Sie sind auch in der breiten Bismarck-Forschung bisher nicht systematisch untersucht worden. Aus Anlass des 200. Geburtstags Bismarcks lohnt der postheroisch-abgeklärte Blick auf den historisierten Reichsgründer und die Formen der mythischen Verehrung, die ihm im Jahr 1915 entgegengebracht wurden – zu einer Zeit, als die von ihm an die Spitze Deutschlands gestellte Hohenzollernmonarchie noch siegesgewiss nach Osten und Westen blickt.
Das Projekt bismarckmythos1915.de
Im Wintersemester 2014/15 beschäftigte sich ein Projektkurs am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg mit dem runden Geburtstag Bismarcks. In Zusammenarbeit mit der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh legten die Studierenden eigene Schwerpunkte und fanden damit unterschiedliche Zugänge zu einer personenbezogenen Festkultur, die nicht nur die gefeierte Person, sondern insbesondere die Feiernden selbst ins Zentrum stellte und über den 100. Geburtstag hinaus die Art und Weise, in der Bismarck verherrlicht wurde, anschaulich macht.
Indem Postkarten, Münzen, Bismarck-Biografien, Festreden zu unterschiedlichen Bismarck-Geburtstagen in vier unterschiedlichen politischen Systemen sowie ein biografisches Gesellschaftsspiel über den “Eisernen Kanzler” zum Gegenstand genommen werden, schaffen die Studierenden Zugänge zum zeitgenössischen Kult um Bismarck und öffnen den Blick auf eine innere, kulturelle Nationsbildung in Deutschland. In ihr wurde die Geschichte des Reichskanzlers verknüpft mit Erzählungen über die Nation und damit eine Verbindung hergestellt zwischen der (ehemaligen) politischen Führung des Landes und den Einzelnen, die sich als Teil der nationalen Gemeinschaft verstanden.
Die Beiträge sind studentische Erschließungen eines komplexen Themas und keine abschließenden Forschungsergebnisse auf langjähriger Grundlage. Hier und da mögen Wertungen und Schlüsse daher Anlass zu Ergänzungen geben. Die Seminarleiter und Herausgeber der Webseite, Dr. Thorsten Logge und Dr. Ulf Morgenstern, moderieren bismarckmythos1915.de und nehmen Kritik und Anmerkungen gern entgegen. Wegen der begrenzten Teilnehmerzahl des Seminars sind aus dem breiten Spektrum der Überlieferungen zu Bismarcks 100. Geburtstag nur einzelne, wenn auch zentrale Aspekte bearbeitet. Manche Themen, wie etwa die Presseberichterstattung über Feste und Feiern rund um den 1. April 1915, konnten nur dokumentiert, nicht jedoch kommentiert und analysiert werden. Trotzdem ist ein breiter Bogen gespannt, der eine fremd gewordene Festkultur zeigt, die sich erheblich von den Gepflogenheiten politischer Sozialisationen der Gegenwart unterscheidet, vor 100 Jahren jedoch für breite Teile der deutschen Gesellschaft anschlussfähig war und integrierend wirkte.
zum Projekt geht es hier: bismarckmythos1915.de
Zu den Dozenten und Moderatoren hier: Dr. Thorsten Logge (Uni Hamburg); Dr. Ulf Morgenstern (Otto-von-Bismarck-Stiftung/Uni Hamburg)
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