Deportationen sind das Gegenteil einer zivilisierten Politik – das Kaiserreich als mahnendes Beispiel

Ab 1885 wurden etwa 32.000 Polinnen und Polen, die die russische oder österreichische Staatsangehörigkeit besaßen, aus dem Königreich Preußen ausgewiesen. Etwa 10.000 von ihnen waren Jüdinnen und Juden. Rugi pruskie, Gemälde von Wojciech Kossak (Sammlung des © Bezirksmuseums Toruń)

Vertreibungen, erzwungene Umsiedlungen, gar Deportationen haben seit der Antike unsägliches Leid über Millionen von Menschen gebracht. Und dennoch scheinen gewisse Staaten bis auf den heutigen Tag nicht bereit, sie aus dem Arsenal ihrer politischen Mittel zu verbannen – siehe Aserbeidschan, China oder Myanmar. Durch investigativen Journalismus wurde jüngst bekannt, dass auch in Deutschland der menschenverachtende Gedanke der Vertreibung missliebiger Bevölkerungsgruppen wieder virulent ist. Wie der Presseberichterstattung entnommen werden kann, scheint die Idee auch in einem der zahlreichen Zweige der Familie von Bismarck noch zu verfangen. Abgesehen davon, dass das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes Vertreibung seit 1945 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert, böte ihm und allen anderen so Denkenden das Beispiel des Kaiserreichs genügend Anschauungsmaterial für die politisch wie gesellschaftlich katastrophalen Folgen ihrer Gesinnung.

Auch wenn das Staatsangehörigkeitsrecht des deutschen Kaiserreiches zunächst weder national noch rassisch determiniert war, machte sich in Teilen der Bevölkerung die Vision vom homogenen Nationalstaat breit, wodurch die im Reich lebenden 1,5 Millionen Elsässer und Lothringer, 80.000 Dänen und zwei Millionen Polen zu nationalen Minderheiten gestempelt wurden. Als brisanteste dieser Minderheitenfragen galt die polnische, einerseits wegen der schieren Zahl: jeder zehnte Einwohner Preußens war polnischer Herkunft, andererseits durch die Verquickung mit dem „Kulturkampf“, d.h. dem Konflikt zwischen dem preußisch-deutschen Staat und der katholischen Amtskirche.

Bismarck operierte in der Polenpolitik zunächst mit dem doppelten Mittel der Germanisierung durch Sprache und der „Germanisierung des Bodens“. Da der nicht endende Strom der Einwanderung den Erfolg der Maßnahmen seiner Meinung nach unmöglich machte, ergänzte er seinen Katalog seit Mitte der 1880er-Jahre um eine „Germanisierung durch Ausweisung“ (Theodor Schieder). Zwischen 1885 und 1887 ließ die preußische Regierung etwa 32.000 Polen russischer Staatsangehörigkeit ohne Aufenthaltsgenehmigung ins Zarenreich abschieben. Als die Berliner Regierung Anfang 1886 die Pläne für eine millionenfache Denaturalisierung von Polen präsentierte, legte der Reichstag ein Veto ein. Der Dualismus von Preußen und Reich erlaubte es Bismarck, diese Schlappe halbwegs gelassen hinzunehmen. Denn ungeachtet des klaren Votums des Reichstags und einer Flut oppositioneller Interpellationen verabschiedete der preußische Landtag ein Gesetz, das die Ansiedlung deutscher Bauern in Posen und Westpreußen durch Ankauf und Parzellierung von Gutsbesitz fördern sollte. Neue Studien lassen erkennen, dass Bismarcks Polenpolitik eingebettet war in eine breite gesellschaftliche Debatte über eine „innere Kolonisation“ der preußischen Ostprovinzen, der selbst Sozialdemokraten und Linksliberale aus der Überzeugung von der zivilisatorischen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Polen zustimmten.

Nach Bismarcks Rücktritt 1890 ließ die neue Reichsregierung unter Leo von Caprivi die Grenze für polnische Arbeiter wieder öffnen, um sie „als mobile und disponible Einsatzreserve“ (Klaus J. Bade/Jochen Oltmer) einsetzen zu können. Caprivis Nachfolger Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst fuhr dagegen vor dem Hintergrund der Gründung des antipolnischen Ostmarkenvereins und der Bildung des Alldeutschen Verbandes einen rigiden Kurs, dem innen- wie außenpolitische Erwägungen zugrunde lagen. Einerseits glaubten die maßgeblichen Berliner Akteure wie einst Bismarck, dass die Stellung Preußens in Deutschland und Europa ganz wesentlich auf dem Besitz von Westpreußen und Posen beruhe. Andererseits hatten sie zur Kenntnis zu nehmen, dass
sich im innenpolitisch-gesellschaftlichen Diskurs des Kaiserreichs ein qualitativer Wandel des Feindbildes von politisch-sozialen zu ethnisch-kulturellen, ja rassischen Kategorien vollzog.

Unter Hohenlohes Nachfolger Bernhard von Bülow sollte die Marschroute weiter verschärft werden. Ein 1908 in Kraft tretendes Gesetz „zur Stärkung des Deutschtums“ erlaubte es der Regierung, in Posen und Westpreußen jederzeit Eigentum bis zu 70.000 Hektar zu enteignen. Mit dem kurz darauf verabschiedeten Vereinsgesetz wurde der Gebrauch der deutschen Sprache in öffentlichen Versammlungen reichsweit festgeschrieben (allerdings auf Betreiben der Linksliberalen in Bezirken mit mehrheitlich nichtdeutscher Bevölkerung für 20 Jahre ausgesetzt). Nach dem Amtsantritt des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg 1909 suchte die Regierung zwar in der Sprachenfrage eine moderatere Linie, trieb den Aufkauf „polnischen“ Landes aber als Gefangene der Hardliner auf der politischen Rechten massiv voran und verwehrte polnischen Arbeitskräften aus Russland weiterhin die Integration.

Als das Kaiserreich 1918 unterging, hatte es nicht nur nicht geschafft, Elsässer und Lothringer, Polen und Dänen innerlich zu gewinnen, es hatte deren einst kriegerisch eroberte Gebiete auch durch Krieg wieder verloren. Trotz ihrer Erfolglosigkeit könnte Bismarcks Minderheitenpolitik in der seit dem „Flüchtlingsschock des Jahres 2015“ (Peter Graf Kielmansegg) auf die Agenda der deutschen politischen und gesellschaftlichen Diskurse zurückgekehrten Debatte über die Inklusion und Exklusion ethnischer Minderheiten in dreierlei Hinsicht zum Nachdenken anregen: 1) sein konsequentes Verfechten „eines ethnisch indifferenten Staatspatriotismus“, 2) die Sicherung von Grenzen als Teil einer „strategisch-militärische[n] Sicherung des Gesamtstaates“ (Rudolf Jaworski) und 3) die Sprache als wesentliches Instrument von Integration. Vertreibungen, erzwungene Umsiedlungen, gar Deportationen können, solange sich Deutschland zu den zivilisierten Staaten dieser Welt zählt, nicht Teil unserer Debatten sein.


Literatur:

Brigitte Balzer, Die preußische Polenpolitik 1894-1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien (unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen). Frankfurt am Main u. a. 1990

Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire 1871-1900. Boulder/New York 1981

Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2001

Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871. Paderborn u. a. 2018

Ulrich Lappenküper, Nationale Minderheiten und Bismarcks Erbe: Elsass-Lothringer, Polen, Dänen, in: Holger Afflerbach und Ulrich Lappenküper (Hg.), 1918 – das Ende des Bismarck-Reiches?, Paderborn u.a. 2021, S.169-183

Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Ein Beitrag zur Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wiesbaden 1967

Daniel Stienen, Verkauftes Vaterland. Die moralische Ökonomie des Bodenmarktes im östlichen Preußen 1886–1914, Göttingen 2022

Lech Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland. New York 1990

Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914. Göttingen 2014