Politischer Islam – Geschichte und Gegenwart. Ein Rückblick auf den Hamburger Bismarck-Vortrag 2023
Ein aktuelles Thema mit tiefen Wurzeln in der Geschichte stand im Mittelpunkt des diesjährigen Hamburger Bismarck-Vortrags, zu dem die Otto-von-Bismarck-Stiftung am vergangenen Donnerstag in die Bibliothek des Warburg-Hauses eingeladen hat. Für diesen Vortrag konnte sie die Ethnologin Prof. Dr. Susanne Schröter gewinnen, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Prof. Dr. Schröter verknüpfte in ihrem Vortrag für das Publikum sehr gut nachvollziehbar die Entstehungsgeschichte des Islam, seine Konfrontationen und Verbindungen mit Europa, extremistische Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten und gegenwärtige Herausforderungen für die deutsche Gesellschaft. Dabei profitierte ihre Analyse von ihren Erkenntnissen, die sie in verschiedenen Forschungsprojekten – auf Java wie auch in Berlin-Neukölln – gewonnen hat.
Ihren Ausführungen voran stellte Prof. Dr. Schröter zunächst den Hinweis, dass der Blick auf die Geschichte des Christentums zeige, dass die Politisierung von Religion lange als normal angesehen worden sei. An den Ausgangspunkt ihrer Argumentation stellte sie Mohammed (571 – 632) in seiner dreifachen Rolle als Religionsstifter, politischer Führer und Heerführer: Es habe von Anfang an keine Trennung zwischen Religion und Politik gegeben. Kursorisch erläuterte Prof. Dr. Schröter die vor allem auch kriegerische Ausdehnung des Islam bis in das heutige Spanien. Die Eroberungen seien immer als „Dschihad“ („heiliger Krieg“) verstanden worden, also als ein Kampf auf dem Weg Gottes. Zugleich verwies die Ethnologin auf die Vielfältigkeit des Islam. Dieser habe es immer auch verstanden, lokale Traditionen in sich aufzunehmen. Als ein Beispiel nannte sie den auf der indonesischen Insel Java praktizierten Islam, in den eine hinduistische Göttin integriert worden sei.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Prof. Dr. Schröter den Reaktionen auf Ereignisse, die von islamischer Seite als Krise wahrgenommen worden seien. Als ein herausragendes historisches Beispiel nannte sie die gescheiterte Zweite Wiener Türkenbelagerung 1683. Die sinngemäße Frage, warum man nicht erfolgreich gewesen sei, obwohl der Islam doch die beste Religion sei, hätten einige islamische Gelehrte mit einer Rückbesinnung auf die Fundamente der Religion beantwortet: Man sei nicht gottesfürchtig genug gewesen. Prof. Dr. Schröter zeigte auf, dass die strenggläubigen Schriften dieser Rechtsgelehrten häufig in den islamischen Gesellschaften keine Resonanz fanden. Einige entfalteten erst später ihre Wirkung. Als wichtiges Beispiel nannte sie die Schriften des Rechtsgelehrten Ibn Taimiya (1263 – 1328), die erst Jahrhunderte später von Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (1702/3 – 1792) aufgegriffen worden seien. Zunächst sei auch dieser ohne Einfluss geblieben, habe sich dann aber mit dem Clanführer Muḥammad Ibn Saʿūd verbündet. Religion und Politik hätten damit zu einer neuen Verbindung gefunden, auf der bis heute das Königreich Saudi-Arabien basiere. Prof. Dr. Schröter kritisierte den großen Einfluss, den das Land in der islamischen Welt ausübe, da es die Vielfältigkeit zugunsten des strenggläubigen Wahhabismus verdränge. Dies gehe insbesondere mit einer starken Benachteiligung von Frauen einher.
Anhand weiterer Beispiele wie der Gründung der Moslembrüderschaft 1928, der Reformpolitik Kemal Atatürks (1881 – 1938), der die Türkei in eine laizistische Republik transformierte, sowie der Iranischen Revolution 1979 zeigte Prof. Dr. Schröter die Modernisierungsfähigkeit in islamisch geprägten Ländern ebenso auf wie gegenläufige konservative und extremistische Bewegungen. Mit Blick auf die Bundesrepublik kritisierte die Wissenschaftlerin, dass die religiösen Bedürfnisse der Arbeitsmigranten („Gastarbeiter“) von der deutschen Politik lange ignoriert worden seien. Auch sei der Einfluss der Türkei, die Material und Personal in die Moscheen in Deutschland schicke, inzwischen kritisch zu sehen, da der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein Land wieder islamisieren wolle. Insgesamt sei es ihr unverständlich, dass die deutsche Politik mit islamischen Organisationen kooperiere, die als extremistisch einzustufen seien und vom Verfassungsschutz beobachtet würden. Es wäre wünschenswert, so ihr Plädoyer, wenn die deutsche Politik stattdessen Beteiligungsformen für die große Mehrheit der Musliminnen und Muslime, die liberal gesinnt seien, entwickeln würde.