Entscheidungskulturen der Bismarck-Ära – Rückblick auf die Konferenz in Friedrichsruh
Emotionen, Zeitmanagement und Wissensvorsprung waren einige der Stichworte, mit denen in der vergangenen Woche auf einer zweitägigen wissenschaftlichen Konferenz in Friedrichsruh Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen von politischen Entscheidungen während der Regierungszeit Otto von Bismarcks untersucht wurden. Veranstaltet wurde die Konferenz unter dem Titel „Entscheidungskulturen der Bismarck-Ära“ von der Otto-von-Bismarck-Stiftung und dem Historischen Institut der Universität Stuttgart unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich Lappenküper (Friedrichsruh) und Prof. Dr. Wolfram Pyta (Stuttgart).
In seiner Einführung plädierte Pyta dafür, die Geschichte des Kaiserreichs wichtig zu nehmen und sie dabei weder zur Vorgeschichte von 1933 zu degradieren noch die Maßstäbe von heute anzulegen. Mit Blick auf dem Konferenztitel bezeichnete er Bismarck als einen „Entscheider par excellence“, dieser sei während seiner gesamten Regierungszeit ein „entscheidungsfreudiger Zentralakteur“ gewesen. Dennoch sollte die Ära nicht auf seine Person reduziert werden, das Kaiserreich habe sich vielmehr durch ein „überaus komplexes Entscheidungsgefüge“ ausgezeichnet.
Die Rolle von Emotionen und Ehrgefühl
In der ersten Sektion leuchtete Prof. Dr. Birgit Aschmann (Berlin) die Bedeutung von „Emotionen als Entscheidungsfaktoren“ aus und verknüpfte dabei historische Ereignisse, den gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine und neuere Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Sie rückte den „Sprung“ zwischen rationalen Abwägungen und der eigentlichen Entscheidung in den Fokus, bei dem Emotionen eine Rolle spielten. Sie sprach sich daher dafür aus, die Emotionen systematisch in die Analyse politischer Entscheidungen zu integrieren. Aschmann illustrierte ihre Thesen mit einigen Entscheidungen Bismarcks und seinen Versuchen, bestimmte Entscheidungen des Königs durch das Zeigen von Gefühlen herbeizuführen – er habe zwar als kalt kalkulierender Politiker gegolten, ihm selbst aber sei die Wirkungsmacht von Emotionen bewusst gewesen. Aschmann erinnerte an die von ihm später selbst geschilderten Weinkrämpfe und Fast-Nervenzusammenbrüche. Am Beispiel der Duelle, zu denen er aufforderte und/oder an denen er teilnahm, identifizierte sie außerdem die Ehre als „Leitgefühl des 19. Jahrhunderts“. Über den Ehrdiskurs würden nationale und geschlechtsbezogene Gemeinschaften stabilisiert. Die – manipulative – Wahrnehmung einer „nationalen Ehre“ wirke nach innen integrierend und nach außen aggressiv, stellte Aschmann auch unter Hinweis auf das Russland der Gegenwart fest.
Militär, Außenpolitik und Wirtschaft
Die zweite Sektion war „Militär, Außenpolitik und Wirtschaft“ gewidmet. Prof. Dr. Holger Afflerbach (Leeds) zeigte auf, wie sich die „Ideologie des raschen militärischen Handelns“ und die Verschachtelung der militärischen Struktur widersprachen: Generalstab, Kriegskabinett und Kriegsministerium verfügten jeweils über eigene Zuständigkeiten, ebenso die Armeen und Militärverwaltungen der Länder, die nach der Reichsgründung weiterbestanden. Dieses Neben- und Miteinander der Institutionen habe Kompromisse erzwungen. Afflerbach arbeitete heraus, dass in diesem Rahmen bei den Entscheidungsfindungen das „Prestige“ von Personen und Institutionen eine große Rolle spielte.
Am Beispiel der Zolltarifgesetze von 1879 und 1902 veranschaulichte Prof. Dr. Cornelius Torp (Bremen) den zunehmenden Bedeutungszuwachs von Wirtschaftsverbänden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Diese hätten zunehmend versucht, über gute Beziehungen zur deutsch-preußischen Ministerialbürokratie sowie über die gezielte Förderung von Kandidaten für den Reichstag Einfluss auszuüben. In der Bismarck-Ära sei dies nur in geringem Maße gelungen, der Reichskanzler habe 1879 mit der Zollgesetzgebung eigene politische Ziele verfolgt. So sollten vor allem die eigenen Einnahmen des Reiches erhöht werden.
Wie sehr sich die Rolle der Diplomaten bei der Pflege außenpolitischer Beziehungen und bei der Entscheidungsfindung in diesem Politikfeld im Laufe des Kaiserreichs veränderte, erläuterte Prof. Dr. Friedrich Kießling (Bonn). Während Bismarck von ihnen ausschließlich die Umsetzung von Entscheidungen sowie sachliche Berichte verlangt habe, zeigten sich in ihrer Korrespondenz aus Wilhelminischer Zeit auch eigene Einschätzungen. Die außenpolitischen Entscheidungsstrukturen in der Bismarck-Ära bezeichnete er daher als „vormodern“.
Handlungsspielräume der Monarchen
In der dritten Sektion standen Monarchen und deren Umfeld als Entscheidungsträger im Mittelpunkt. Unter Hinweis auf seine in Kürze einzureichende Dissertation ordnete Jan Markert M.A. (Oldenburg) auf der Grundlage einer umfangreichen Quellenauswertung Wilhelm I. als eigenständigen Akteur ein. Dieser habe ein monarchistisches, anti-revolutionäres Projekt verfolgt, das durch eine „paranoide Wirklichkeitswahrnehmung“ beeinflusst gewesen sei. Die Nationalstaatsbewegung sei ihm als geeignetes Mittel erschienen, die Monarchie mit einer neuen Legitimationsquelle zu versorgen und zugleich die Partizipationsbestrebungen der Liberalen zu kanalisieren. Dabei habe er stets Bismarcks politischen Aktionsradius begrenzt. Anschließend widersprach Prof. Dr. Frank Lorenz Müller (St. Andrews) der Vorstellung, Friedrich III. wäre bei längerer Lebensdauer ein liberaler Reformkaiser gewesen. Dagegen hätten dessen eigene politische Ansichten, der Aufbau der Reichsverfassung sowie eine fehlende liberale Mehrheit im Reichstag gesprochen.
Den letzten Programmpunkt des ersten Konferenztages bestritt Bundesminister a.D. Peter Altmaier. Er hielt vor 140 interessierten Gästen im Schloss Reinbek den öffentlichen Abendvortrag mit dem Titel „Entscheidungskulturen der Gegenwart – Entwicklung und Perspektiven aus der Sicht eines Akteurs“. Er schloss seine Ausführungen mit dem dringenden Appell an junge Menschen, sich in einer demokratischen Partei politisch zu engagieren.
Bismarck und Bundesrat
Die vierte Sektion, mit der der zweite Konferenztag eröffnet wurde, rückte Reichskanzler und Bundesrat in den Blick. Prof. Dr. Ulrich Lappenküper (Friedrichsruh) zeigte die Faktoren auf, die Bismarcks politische Entscheidungsfindung prägten. Dazu zählten neben Machtstellung und Weltanschauung u.a. die Nutzung von Wissensständen, die Instrumentalisierung der Zeit und der Einsatz von Emotionen. Er betonte, dass sich zwar auf den preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzler Bismarck die politische Handlungsmacht konzentriert habe, er dennoch andere Akteure – einschließlich des Reichstags – berücksichtigen musste. Auch habe er den Rat seiner Mitarbeiter und anderer Berater angenommen, beispielsweise bei der Entscheidungsfindung zur Sozialgesetzgebung. Diese Offenheit auch für Kritik habe allerdings nichts an seiner grundsätzlichen Ablehnung einer parlamentarischen Herrschaft geändert.
Bismarck, der sich selbst als Realpolitiker begriffen habe, so Lappenküper, musste allerdings auch erleben, wie sich entgegen dem Verfassungsaufbau die Bedeutung einzelner Institutionen veränderte. Dies wurde in dem Vortrag von Dr. Oliver Haardt (Cambridge) deutlich: Während es dem Reichstag gelungen sei, die für ihn vorgesehene relative Bedeutungslosigkeit hinter sich zu lassen und zum wichtigsten Forum der politischen Auseinandersetzung zu werden, habe der Bundesrat ungewollt den umgekehrten Weg genommen. Obwohl an zentraler Position im Verfassungsgefüge positioniert, habe er rasch seine Rolle als Machtzentrum des Fürstenbundes, der das Kaiserreich gewesen sei, verloren. In einer Hinsicht allerdings habe der Bundesrat seine Aufgabe erfüllt: Bis 1918 habe er durch seine verfassungsgemäße Existenz eine Parlamentarisierung des Kaiserreichs aufgehalten.
Ludwig Windthorst und Reichstag
Die fünfte und letzte Sektion war dem Reichstag und herausragenden Parlamentariern gewidmet. PD Dr. Stefan Gerber (Jena) stellte den Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst als „parlamentarische Existenz“ vor. Dieser habe seinen Einfluss nicht durch Amtsautorität, sondern durch Charisma gewonnen. Im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag sei es ihm gelungen, durch „physische und rhetorische Präsenz“ politische Entscheidungen zu beeinflussen. Gerber betonte in diesem Zusammenhang, dass sich im Kaiserreich zwar Gesellschaft und Öffentlichkeit demokratisierten, diese Entwicklung aber von der Parlamentarisierung zu trennen sei, die selbst durch einflussreiche Abgeordnete wie Windthorst nicht habe weiterentwickelt werden können.
Dem Reichstag gelang es trotzdem, eine wichtige Rolle in Politik und Öffentlichkeit zu spielen, wie Prof. Dr. Wolfram Pyta (Stuttgart) im letzten Vortrag der Konferenz festhielt. Er definierte diesen als Fraktionenparlament. Dessen Arbeit und insgesamt der Entscheidungskultur im komplexen Mehrebenensystem des Kaiserreichs näherte er sich mit dem Begriff „Kompromiss“. Pyta schärfte damit noch einmal den Blick auf die Aushandlungsprozesse, die innerhalb des Institutionengefüges stattfanden. Auch in der Schlussdiskussion der Konferenz wurde der Kompromiss in den Mittelpunkt gerückt und als ein Charakteristikum der Entscheidungskultur im Kaiserreich benannt, auf das sich die politischen Akteure während des Systemwechsels 1918/19 zumindest teilweise stützen konnten.