Bismarck und Windthorst. Zum 130. Todestag des „bedeutendsten Parlamentariers des kaiserlichen Deutschlands“

Ludwig Windthorst

Anno 1878 trug sich im Deutschen Reichstag eine skurrile Geschichte zu: Während einer Sitzung erhob sich Reichskanzler Otto von Bismarck von seinem Platz und begann – für alle Abgeordneten gut sichtbar – mit Präsident Max von Forckenbeck ein eifriges Gespräch. Im selben Moment begab sich der Zentrumsabgeordnete Ludwig Windthorst von seiner Bank in die Richtung des Präsidentenstuhls. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit war er offenbar ohne „Ahnung von dem, was sich da oben abspielt“, wie der Bonner Literaturwissenschaftler Berthold Litzmann Jahrzehnte später in seinem Buch über das „alte Deutschland“ zu berichten wusste. „Schon ist er […] bis auf zwei Schritte an die Gruppe herangekommen, als mit einem Male […] Bismarck aus seiner gebeugten Stellung sich aufrichtet […] und aus seinen grossen furchtbaren Augen den harmlosen Wanderer so dräuend mustert, wie etwa eine Riesendogge einen kleinen Pinscher […]. Jener macht dann auch vom Flecke weg kehrt“.

Ist es ein Zufall, dass eine auszugsweise Abschrift von Litzmanns Bericht als eines von nur zwei Schriftstücken über Windthorst den Weg in Bismarcks Nachlass fand? Wohl kaum! Obwohl beide Politiker sich gewiss viel zu sagen oder zu schreiben gehabt hätten, waren sie aufgrund eines tief ins Persönliche hineinreichenden politischen Zerwürfnisses zu einer normalen Kommunikation offenbar nicht fähig. „Mein Leben“, so eröffnete Bismarck einmal einem Mitarbeiter, „erhalten und verschönen zwei Dinge, meine Frau und – Windthorst. Die eine ist für die Liebe da, der andere für den Haß.“

Im Mittelpunkt des Konflikts zwischen dem wohl größten deutschen Staatsmann des 19. Jahrhunderts und dem „bedeutendste[n] Parlamentarier des kaiserlichen Deutschlands“ (Margaret Anderson) stand der Anfang der 1870er-Jahre ausbrechende „Kulturkampf“. Die Ursachen der Verwerfungen reichen indes tief in ihre Biografien zurück. Bismarck und Windthorst kamen aus zwei sehr verschiedenen Welten. Der eine, am 1. April 1815 auf Gut Schönhausen in der Altmark geboren, entstammte altpreußisch-protestantischem Landadel. Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften strebte er zunächst – auf Wunsch der Mutter – eine Beamtenkarriere im Staatsdienst an, übernahm aber nach ihrem Tod 1839 die Bewirtschaftung der väterlichen Güter, die ihn in eine von selbstzweiflerischem Grübeln geprägte Sinnkrise führte. Zu innerer Ruhe fand der Junker erst, als er 1847 Johanna von Puttkamer heiratete – und dank hochkonservativer Fürsprecher Zugang zur Politik bekam.

Im Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung ist ein Brief von Ludwig Windthorst an Otto von Bismarck erhalten:
Euer Excellenz,
bitte ich gehorsamst, in Beziehung auf die Verhandlungen über die Vermögensverhältnisse Sr. Majestät des Königs Georg V. eine kurze mündliche Besprechung sobald wie möglich gütigst mir verstatten zu wollen, übrigens aber den Ausdruck vollkommenster Hochachtung zu genehmigen, mit welcher ich die Ehre habe zu beharren
Euer Excellenz
gehorsamer
LWindthorst

Bismarck begann seine politische Karriere als erzkonservativer Royalist, was bis in die Staatsspitze hinein ein zwiespältiges Gefühl auslöste. „Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet“, warnte Preußens König Friedrich Wilhelm IV. 1848. Drei Jahre später ließ der Monarch seine Skrupel fallen und ernannte Bismarck zum Delegierten bei der Bundesversammlung. Unter seinem Nachfolger und Bruder Wilhelm I. stieg der Diplomat sogar zum Ministerpräsidenten Preußens und deutschen Reichskanzler auf.

Führt man sich nun den Werdegang Windthorsts vor Augen, können unschwer bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, aber auch gravierende Unterschiede festgestellt werden. Geboren am 17. Januar 1812 auf Gut Caldenhof im Osnabrücker Land als Sohn eines Rechtsanwalts und Gutsverwalters, wuchs Windthorst in einem von traditioneller Frömmigkeit geprägten katholischen Elternhaus auf. Wie Bismarck absolvierte er ein Studium der Jurisprudenz, arbeitete dann aber als Rechtsanwalt bzw. als Vorsitzender der staatlichen Kirchenbehörde in Osnabrück. Seit der Eheschließung 1838 führte er ein persönlich bescheidenes Leben, das sich vom Bismarck’schen trotz aller Unterschiede in Bezug auf Stand und Konfession in einer Hinsicht ähnelte – der Neigung zur Politik.

Als Bismarck 1849 für die Konservativen in die Zweite Preußische Kammer gewählt wurde, trat Windthorst für die „Groß- und echt-deutsche Partei“ ins Abgeordnetenhaus des Königreichs Hannover ein. Als der eine 1851 in die Frankfurter Bundesversammlung wechselte, avancierte der andere zum Justizminister in Hannover. Schon jetzt gewann ihr Jahrzehnte währender Konflikt Kontur. Erfüllt von der Sorge, dass dieses „üble ultramontane Element“, wie Bismarck Windthorst verunglimpfte, die Gewichte des Königreichs im preußisch-österreichischen Konflikt in die Waagschale des Kaiserreichs legen könnte, begann der Bundestagsdelegierte eine heftige Kampagne, die mit dazu beitrug, dass König Georg V. seinen Minister fallenließ. Zwar avancierte Windthorst 1862 erneut zum Justizminister, doch die abermalige Entlassung 1865 schien seiner politischen Laufbahn ein definitives Ende zu setzen.

Trotz des tiefen Falls blieb der welfische Patriot seinem König treu ergeben und erhielt nach der Annexion Hannovers infolge des Deutschen Krieges 1866 als Kronoberanwalt den Auftrag, mit Bismarck einen Abfindungsvertrag auszuhandeln, der dem Monarchen seinen fürstlichen Lebensstil erhalten sollte. Kaum hatte Georg V. nach dem Vertragsabschluss signalisiert, nicht wirklich zur Abdankung bereit zu sein, ließ Bismarck sein Vermögen beschlagnahmen. Windthorst zog daraus den Schluss, dass Preußen eine große Gefahr für Freiheit und Gleichheit in Deutschland darstelle. Geschichtsmächtigkeit gewann diese Sorge wohl nur dadurch, dass die Zeitläufte ihm 1867 ein politisches Comeback erlaubten, das ihn zunächst als Abgeordneter von Meppen in den Reichstag des neuen Norddeutschen Bundes, dann in das Preußische Abgeordnetenhaus und später auch in den Reichstag führte. Rasch geriet die nur aus seiner Person bestehende „Fraktion“-Meppen in den Verdacht der Subversion.

Ludwig Windthorst (Bildmitte) mit Mitgliedern der Welfenpartei im Foyer des Reichstags, aufgenommen im Jahr 1889. Foto: Julius Braatz (© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / DGDB)

Schon Windthorsts Kritik an der mit militärischen Mitteln erkämpften Reichsgründung, sein Kampf gegen den „hegemonialen Föderalismus“ Preußens und für die Stärkung parlamentarischer Rechte hätten ausgereicht, die Abneigung Bismarcks zu zementieren. Zum Bruch kam es dann durch den Aufstieg des katholischen Welfen zum Führer der neuen Zentrumspartei; zwei Eigenschaften dürften Windthorst dabei geholfen haben: seine körperliche Größe von nur 1,50 Metern sowie seine rhetorische Begabung. In gewisser Weise verdankte er sein Renommee aber vor allem dem Kulturkampf. Denn durch die harten Auseinandersetzungen zwischen Staat und politischem Katholizismus, durch die mannigfachen Schlagabtausche mit dem Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten wuchs die „Perle von Meppen“, wie Windthorst im Volksmund hieß, in die Rolle von Bismarcks „bedeutendstem innenpolitischen Gegenspieler“ (Rudolf Morsey).

1886 trieb die Auseinandersetzung auf einen unrühmlichen Höhepunkt zu. Als die preußische Regierung damit begann, in den Provinzen Westpreußen und Posen lebende Polen des Landes zu verweisen, meldete Windthorst entschiedenen Widerstand an. Bismarck attackierte ihn daraufhin als „welfischen Demagoge[n]“ und Sozialisten und erreichte damit, dass Teile des Zentrums ihrem Führer die Gefolgschaft aufkündigten. Das Ende des Kulturkampfs 1887 verdeutlichte allerdings nachdrücklich, wie sehr beide Politiker Blessuren davongetragen hatten.

Man kann es kaum anders als eine Ironie der Geschichte bezeichnen, dass Bismarck drei Jahre später glaubte, ausgerechnet seinen Erzfeind Windthorst für sein politisches Überleben einspannen zu können. Nach einer schweren Schlappe der Regierung bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 sah Kaiser Wilhelm II. 1888 den Zeitpunkt gekommen, Bismarck in den Ruhestand zu schicken. Der Reichskanzler umgarnte daraufhin den „Kutscher des Centrums“ mit verbalen Liebenswürdigkeiten und würdigte ihn öffentlich als einen „Staatsmann“, der halte, was er verspreche, und nur verspreche, was er halten könne. Als Bismarck es wagte, mit Windthorst Verhandlungen über eine katholisch-konservative Koalition aufzunehmen, hatte er seine Karten jedoch überreizt. Entrüstet zwang Wilhelm II. den Kanzler am 20. März 1890 zum Rücktritt.

Der Tod Windthorsts fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 14. März 1891, zeigte dann ungeschönt, wie wenig Bismarck seine Einstellung wirklich geändert hatte. Empört über das dem Zentrumsführer zuteilwerdende Staatsbegräbnis, fiel der Reichskanzler außer Diensten verbal in die alte Kampfzeit zurück. Wer diesen Mann „gleichsam wie einen nationalen Heros“ feiere, verliere aus den Augen, dass er „als genau der nämliche gestorben ist, als der er gelebt und gewirkt hat, als einer der gefährlichsten, weil geschicktesten und verstellungskundigsten Gegner unserer nationalen Entwicklung“. Auf diesen groben Klotz setzte die Berliner Zentrumszeitung „Germania“ einen kaum minder groben Keil und schrieb voller Häme: „Windthorst ist gestorben und lebt, Bismarck lebt und ist tot.“

Möchte man beide Politiker heute nach Sympathiewerten messen, dürfte die Entscheidung wohl zugunsten Windthorsts ausfallen. Aber die Politik ist keine Castingshow – Gottseidank. Mit seiner Verkörperung der Ambivalenz von Tradition und Moderne gilt Bismarck heute zurecht als der überragende deutsche Staatsmann des 19. Jahrhunderts. Windthorst dagegen ist fast vollständig in Vergessenheit geraten, obwohl auch seinem politischen Wirken höchste Anerkennung gebührt. Ob seiner Physiognomie pflegte die „Perle von Meppen“ im Scherz zu sagen: Der liebe Gott sei bei seiner Erschaffung wohl gestört worden. Mochte es ihm aufgrund seiner Körpergröße in der Natur auch kaum möglich gewesen sein, aus Bismarcks Schatten herauszutreten, hatte die „kleine Exzellenz“ aus dem Emsland dem Recken aus dem Sachsenwald politisch aber stets einen ebenbürtigen Kampf geliefert. Mit seinem Einsatz für die nationalen und politischen Minderheiten im Reich, seinem Engagement für eine interkonfessionelle Parteibildung und der aktiven Mitgestaltung der Politik aus christlicher Verantwortung hatte er die „Umrisse eines anderen, des demokratischen Deutschlands“ sichtbar gemacht (Winfried Becker).


„100 Köpfe der Demokratie“ ist ein Projekt der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Ludwig-Windthorst-Stiftung in Lingen pflegt die Erinnerung an „die Verdienste Windthorsts um die Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung und um die Stärkung der christlich sozialen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts“.

 

Literatur

Margaret L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988

Winfried Becker, Bismarck, Windthorst und der Kulturkampf, in: Norbert Glatzel/Eugen Kleindienst (Hg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Festschrift für Anton Rauscher, Berlin 1993, S.489-509

Ulrich Lappenküper/André Ritter/Arnulf von Scheliha (Hg.), Europäische Kulturkämpfe und ihre gegenwärtige Bedeutung, Paderborn u.a. 2017

Berthold Litzmann, Im alten Deutschland, Berlin 1923 (ms. Abschrift im Auszug im Archiv Otto von Bismarcks: Otto-von-Bismarck-Stiftung, NL Bismarck, B 132/16)

Rudolf Morsey, Ludwig Windthorst. Größe und Grenzen von Bismarcks Gegenspieler, in: ders., Von Windthorst bis Adenauer. Ausgewählte Aufsätze zu Politik, Verwaltung und politischem Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Ulrich von Hehl u.a., Paderborn u.a. 1997, S.145-157