Kalenderblatt: „Kaiserproklamation in Versailles, 18. Januar 1871″
Mit den Novemberverträgen von 1870 traten Bayern, Württemberg, Baden und der südliche Teil des Großherzogtums Hessen dem Norddeutschen Bund bei, der kurzzeitig den Namen „Deutscher Bund“ tragen sollte. Dies hatte zur Folge, dass die Verfassung des Norddeutschen Bundes an die politische Entwicklung angepasst werden musste. Am 10. Dezember 1870 stimmte auch der Bundesrat als Vertretung der deutschen Bundesstaaten der neuen Verfassung zu, änderte aber die Staatsbezeichnung in „Deutsches Reich“ und die Bezeichnung des Staatsoberhauptes in „Deutscher Kaiser“. Da die Novemberverträge am 1. Januar 1871 in Kraft traten, gilt dieses Datum als formelles Gründungsdatum des Deutschen Reiches. Am 18. Januar 1871, dem 170. Jahrestag der Errichtung des preußischen Königtums, versammelten sich neben einer Reihe von Bundesfürsten eine Vielzahl von Heerführern sowie einige Vertreter des Reichstags im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles, um der Akklamation des Königs von Preußen zum deutschen Kaiser als dem repräsentativen und symbolischen Schlusspunkt der Reichsgründung beizuwohnen.
Anton von Werner hielt dieses Ereignis als Augenzeuge in mehreren Gemälden fest. Der hier abgebildete Druck zeigt die erste Fassung (Schlossfassung), die im Auftrag des Großherzogs von Baden angefertigt und anlässlich des 80. Geburtstages von Wilhelm I. im Jahr 1877 vom Maler vollendet wurde. Der Druck bietet aus erhöhter Perspektive einen Einblick in den Spiegelsaal, der von zahlreichen Personen ausgefüllt wird. Auf einer vierstufigen Estrade stehen (aus Sicht des Betrachters) Kaiser Wilhelm I., etwas weiter links von ihm Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III., und rechts von ihm Großherzog Friedrich I. von Baden, Schwiegersohn Wilhelms I., der in diesem Moment das „Hoch auf Kaiser Wilhelm“ ausbringt. Hinter dem Kaiser sind weitere Bundesfürsten versammelt sowie die Regimentsfahnen der deutschen Truppen aufgereiht. Vor der Estrade ist Otto von Bismarck zu erkennen, der die Proklamationsurkunde in den Händen hält und zum Kaiser schaut. Rechts von ihm ist der preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke abgebildet, im Vordergrund sowie in der rechten Bildhälfte sind vor allem preußische und bayerische Offiziere versammelt, die den neuen Kaiser hochleben lassen. Hervorgehoben in dieser Fassung sind nicht herausragende Persönlichkeiten wie Wilhelm I. oder Otto von Bismarck, sondern die Bundesfürsten sowie die deutschen Heerführer in ihrer Gesamtheit. Das in der oberen Bildhälfte angedeutete Deckengemälde des Malers Charles Lebrun (1619 – 1690), das unter anderem den Rheinübergang der Truppen König Ludwigs XIV. im Jahr 1672 zum Thema hat, symbolisiert das jüngst geschlagene Frankreich.
Das Originalgemälde, das als Vorlage für den Druck diente, hing ursprünglich im königlichen Schloss zu Berlin und ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Erhalten blieben nur schwarz-weiße Kupfertiefdrucke (Heliogravüren) von fotografischen Vorlagen. Im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde auch die 1882 entstandene zweite Fassung für das Zeughaus in Berlin (Zeughausfassung). Die dritte Fassung, 1885 als Geschenk des preußischen Herrscherhauses an Otto von Bismarck zu dessen 70. Geburtstag übergeben, hat den Krieg in Friedrichsruh überstanden – sie ist heute im dortigen Bismarck-Museum zu besichtigen (Friedrichsruher Fassung). Eine 1913 von Werner gemalte vierte Fassung, die in der Aula des Realgymnasiums zu Frankfurt/Oder hing, gilt seit 1948 als verschollen.