Die Germania
Die Revolution von 1848/49, Teil III
Wer in den Jahren 1848/49 als Abgeordneter oder Gast an den Sitzungen der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche teilnahm, wird über dem Rednerpult des Versammlungspräsidenten ein großes, die Kirchenorgel verdeckendes Transparent bemerkt haben. Darauf war eine weibliche Figur abgebildet, die mit verschiedenen, für sie charakteristischen Attributen und Symbolen versehen worden war.
Wer heute den ersten Raum der Dauerausstellung der Otto-von-Bismarck-Stiftung im Historischen Bahnhof Friedrichsruh betritt, stößt auf eine Reproduktion dieses Bildes, hier über einer Szene aus der Frankfurter Paulskirche der Revolutionszeit. Eine kleinere Version befindet sich als reproduzierter Farbdruck in der Sammlung der Stiftung.
Doch wer ist die dargestellte Person und welche Bedeutung haben die ihr zugeordneten Gegenstände und Symbole? Während diese für den gebildeten Menschen des 19. Jahrhunderts noch leicht zu identifizieren waren, fällt es dem heutigen Betrachter deutlich schwerer, das Bild und seine Metaphorik zu deuten.
Zu sehen ist die Germania als Nationalallegorie, d.h. als bildhaft dargestellte Personifikation einer Nation, in diesem Fall der deutschen Nation bzw. des deutschen Volkes. Schon die Römer schufen mit der Figur der Germania ein Symbol für die germanischen Völkerschaften. Auch im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und vor allem im 19. Jahrhundert verkörperten derartige Allegorien verschiedene europäische Völker.
Das Original der hier gezeigten Germania ist ein großformatiges Transparent, das dem Maler Philipp Veit (1793 – 1877) zugeschrieben wird und im März 1848 für den Sitzungssaal der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche geschaffen wurde. Nach der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 wurde das Transparent von der „Kommission behufs Auseinandersetzung des bisherigen Bundeseigentums“ (Bundesliquidationskommission) zusammen mit einigen anderen Gegenständen aus der Frankfurter Nationalversammlung dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg übergeben, wo es noch heute zu sehen ist.
Die Germania steht auf einem Steinsockel und trägt einen Eichenlaubkranz auf dem Haupt. Die Eiche galt als „deutscher Baum“ schlechthin und symbolisierte unter anderem Stärke, Standhaftigkeit und Treue – Eigenschaften, die den Deutschen als Kollektiv zugeschrieben wurden.
In der linken Hand hält die Figur eine Turnierlanze, an der die schwarz-rot-goldenen Farben der geeinten deutschen Nation befestigt sind. Das rote Herrschergewand, der gefütterte Brokatmantel sowie der doppelköpfige Reichsadler auf der Brust sind Symbole des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sowie der römisch-deutschen Kaiser und Könige.
Das erhobene Reichsschwert in der linken Hand der Germania verweist auf die Stärke und Wehrhaftigkeit der deutschen Nation. Es ist von einem Zweig umgeben, dessen Darstellung keine sichere botanische Zuordnung zulässt. Vermutlich handelt es sich nicht um einen Ölzweig als Friedenssymbol, wie er in der Literatur häufig anzutreffen ist, sondern möglicherweise um einen Zweig des Mönchspfeffers (auch Keuschlamm genannt) als Schutz- und Abwehrsymbol.
Die über einer Hügelkette aufgehende Sonne im Hintergrund der Germania verheißt den Anbruch einer neuen Zeit, während die gesprengte Fessel zu ihren Füßen als Abschüttelung der Unfreiheit und damit als Hinweis auf die freiheitlichen und nationalen Ideen des Vormärz zu deuten ist.
Obwohl eng mit der Revolution von 1848/49 und der sie tragenden liberal-demokratischen Bewegung verbunden, blieb die Germania auch im Deutschen Kaiserreich ein zentrales Symbol der Nation und Verkörperung des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaates. Davon zeugen zahlreiche bildliche und figürliche Darstellungen (häufig in der kämpferischen Variante mit Reichsschild, Kaiserkrone und einköpfigem Reichsadler, aber auch als Karikatur). Nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 und im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor die Darstellung der Germania als politisches Symbol und als Gegenstand der Kunst weitgehend an Bedeutung.
Die Revolution von 1848/49, Teil II: Die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt a/M