Varziner Notizen – Erinnerung eines Lehrers in der Reihe „Friedrichsruher Beiträge“ erschienen
Ein beinahe verfallenes Schulgebäude und ein Gutsherr, der sich seiner Verantwortung als „Schulpatron“ entledigen wollte, um die Kosten für den Unterricht zu sparen: Der Dienstantritt im Gutsbezirk Varzin in Hinterpommern am 30. März 1886 konfrontierte den Lehrer Bernhard Eduard Haberland mit einem Berufsalltag, der sowohl von traditionellen Verantwortlichkeiten als auch von Ausstattungsmängeln geprägt war, die laut Gesetz längst hätten beseitigt sein sollen. Unterrichtsräume und eigene Unterkunft waren in einem denkbar schlechten Zustand, aber dennoch sollte diese Stelle für ihn zu einer besonderen Station auf seinem Lebensweg werden: Das Gut gehörte Reichskanzler Otto von Bismarck.
Haberland, der ab Februar 1889 dann eine unweit neu gegründete Fabrikschule übernahm, schrieb seine Varziner Beobachtungen und Erfahrungen mit dem prominenten Gutsherrn nieder. Er veröffentlichte sie in Teilen 1904 und 1936, dann 1938 zum 40. Todestag Bismarcks erstmals vollständig. Ein Typoskript dieser Erinnerungen traf 2022 in der Otto-von-Bismarck-Stiftung ein und liegt nun aufbereitet in der Reihe „Friedrichsruher Beiträge“ vor. „Über Bismarcks Beziehungen zu Varzin, seine privaten und wirtschaftlichen Aktivitäten sind wir bisher nur mäßig gut informiert“, schreibt Herausgeber Ulrich Lappenküper in seiner Einleitung. Mit diesen Erinnerungen wird das Gesamtbild weiter vervollständigt. Eine wesentliche Aufgabe bei der Herausgabe war allerdings, die Passagen zu erkennen und mit entsprechenden Fußnoten zu versehen, die Haberland aus anderen Publikationen mehr oder weniger abgeschrieben hatte. Mit dieser Einarbeitung von Texten Dritter, die dem Bismarck-Kult zuzuordnen sind, hatte er seinen Erinnerungen zusätzliche Bedeutung verliehen.
Seine eigenen Beobachtungen und Erlebnisse sind dennoch herauszulesen und bieten eine interessante Lektüre. Haberland schildert das Leben auf dem Gut in übersichtlichen Kapiteln, darunter Erntefest, Bismarcks Aufenthalte sowie Entwicklung und Gründung neuer wirtschaftlicher Unternehmen. Der Reichskanzler tritt dabei als umsichtiger Landbesitzer auf. Im Alltag zeigte er sich, wie Haberland berichtet, offen für Gespräche mit Menschen aller sozialen Schichten. Auch legte er auf langandauernde Dienstverhältnisse viel Wert, konnte aber „scharf und herrisch sein im Verkehr mit seinen Untergebenen“. Seine Unnachgiebigkeit erlebten auch einige Dorfjungen, als sie Obst gestohlen hatten – ihnen ritt Bismarck nach und bestrafte sie mit der Peitsche. Wie sehr sein Blick auf die Kinder der Landbevölkerung durch seinen Status als Gutsbesitzer geprägt war, zeigt auch seine Sorge, diese könnten in der Schule zu viel lernen und dann nach anderen, vielversprechenderen Berufen außerhalb des Gutsbezirks streben. Trotz aller Verehrung für Bismarck hatte der Lehrer Bernhard Haberland an diesem Punkt kein Verständnis für ihn und blieb seinem eigenen Berufsethos treu.
Ulrich Lappenküper (Hrsg.)
Die Erinnerungen des Lehrers Bernhard Eduard Haberland an Bismarck in Varzin
(Friedrichsruher Beiträge 53)
Friedrichsruh 2024