Ein Wegbereiter der deutsch-französischen Freundschaft – zum Gedenken an Alfred Grosser

Alfred Grosser erhielt am 12. Oktober 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dankte in einer Rede. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F046667-0008 / Fotograf: Ulrich Wienke / CC-BY-SA 3.0)

Wer sich wissenschaftlich mit den deutsch-französischen Beziehungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts befasst, kommt an Alfred Grosser nicht vorbei. Auch für den Verfasser dieser Zeilen war die Lektüre seiner Werke im Studium, bei der Vorbereitung auf das Rigorosum oder bei der Abfassung der Habilitationsschrift Pflichtprogramm1. Dabei wurde rasch klar, dass aus den Büchern nicht nur der Politologe, sondern auch der von den Brüchen des 20. Jahrhunderts geprägte „Weltveränderer“ und „Moralpädagoge“ sprach, als den er sich selbst sah.

Vor dem Exil: Lily (1894 – 1968), Margarethe (1922 – 1941),  Alfred und Prof. Dr. med. Paul Grosser (1880 – 1934) beim Spaziergang in Frankfurt am Main, 1929/30.

Alfred Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. 1933 emigrierten seine Eltern mit ihren beiden Kindern nach Frankreich, weil dem Vater, einem Medizinprofessor und Sozialdemokraten jüdischer Herkunft, die Lehrbefugnis entzogen worden war. Nur ein Jahr nach der Ankunft in der ihm fremd gebliebenen neuen Heimat starb Paul Grosser. 1937 wurde seiner Witwe Lily, Alfred und Margarethe Grosser die französische Staatsbürgerschaft verliehen, was den Sohn später einmal als „unermessliches Glück“2 bezeichnete, bewahrte es doch die Familie 1939 davor, wie alle in Frankreich lebenden Deutschen als Feinde in Lagern interniert zu werden. Allerdings musste Lily Grosser nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit ihren Kindern ins nichtbesetzte Frankreich fliehen und verlor dabei ihre Tochter infolge eines Unfalls.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Alfred Grosser ein Studium der Germanistik, das er 1947 mit der Agrégation abschloss, einer Prüfung, die den Zugang zum Lehramt an Gymnasien eröffnete. In der Rückschau sollte er sich Jahrzehnte später darüber beklagen, dass für das Examen ausschließlich Kenntnisse der deutschen Literatur erforderlich gewesen seien, „kein 1848 und kein Bismarck“.3

Statt in den Schuldienst zog es Grosser in die Wissenschaft. Dank einer Stelle bei der Pariser Fondation Thiers begann er eine – nie vollendete – Habilitationsschrift über Philipp Jacob Spener, den Begründer des Pietismus. 1951 wechselte der Germanist als Assistent an die Philosophische Fakultät der Sorbonne. Zwei Jahre später veröffentlichte er das Buch „L‘Allemagne de l‘Occident“4, das noch heute in Frankreich zum Verständnis der Bundesrepublik herangezogen wird. Im selben Jahr übernahm er nebenamtlich die Leitung der Deutschland-Abteilung am neugegründeten Centre d‘études des relations internationales der Fondation nationale des Sciences politiques. Nach der Einrichtung des Faches Politische Wissenschaften wechselte Grosser 1956 als Directeur Études et de Recherches zur Sciences Po. 1970 habilitierte er sich aufgrund von zweien seiner bis dahin verfassten Bücher und erhielt den neu eingerichteten Lehrstuhl für Politologie, den er bis 1992 innehatte.

Seit den späten 1940er-Jahren hatte Alfred Grosser unermüdlich in Wort und Schrift für die Verständigung zwischen den ehedem verfeindeten Nachbarn am Rhein und für die Versöhnung in Europa gewirkt. Den dafür mit zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen hochdekorierten Wissenschaftler, Autor und Zeitungskolumnisten persönlich kennenlernen zu dürfen, war für jeden an Frankreich interessierten deutschen Wissenschaftler eine besondere Ehre. Für den Verfasser dieser Zeilen verlief die erste Begegnung im Oktober 2004 anlässlich einer Konferenz im Deutschen Historischen Institut Paris indes ziemlich holprig. Nach seinem Vortrag über die deutsch-französische Annäherung im europäischen und transatlantischen Zusammenhang der 1950er-Jahre5 meldete sich Alfred Grosser zu Wort und widersprach freundlich, aber bestimmt der soeben verkündeten These, dass der 1956 zum Ministerpräsidenten gewählte Sozialist Guy Mollet eine Neuausrichtung des französisch-sowjetischen Verhältnisses geplant und erst das Scheitern dieser Bemühungen ihn wieder auf den Pfad der Systemkonkurrenz zurückgeführt habe. Für einen kurzen Moment entfachte die kritische Intervention den alten Konflikt zwischen dem erfahrungsbasiert formulierenden Zeitgenossen und dem quellenbasiert argumentierenden Wissenschaftler.

Der Dissens sollte Alfred Grosser freilich nicht davon abhalten, sieben Jahre später eine Einladung nach Friedrichsruh zu einer Konferenz über „Die europäische Einigung im 19. Und 20. Jahrhundert“ anzunehmen. Am 3. November 2011 hielt er im übervollen Theatersaal des Augustinum in Aumühle einen öffentlichen Abendvortrag über das ihm vorgegebene Thema „Die deutsch-französischen Beziehungen gestern – heute – morgen“6. Über das „morgen“ zu sprechen, zierte er sich mit der Begründung, er sei kein Hellseher, sondern Politologe, „der nachher erklärt, wieso man etwas hätte voraussehen können“. Umso ausführlicher ging Grosser auf das „gestern“ und „heute“ des deutsch-französischen Verhältnisses von Konrad Adenauer und Robert Schuman bis Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ein. Beginnen sollte er seinen Vortrag jedoch mit spannenden Ausführungen zum „vorgestern“, empfand es geradezu „erstaunlich“, im Rahmen einer Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung zu sprechen, da Bismarck doch in Frankreich „nicht gerade populär“ sei. Grosser erinnerte an eine in Frankreich existierende Denkschule, der auch sein ehemaliger Germanistikprofessor Edmond Vermeil angehört hatte und die „eine Kontinuität zwischen Martin Luther, Otto von Bismarck und Adolf Hitler“ sah. Wie er selbst zu dieser Auffassung, die seines Erachtens bisweilen noch immer in Frankreich vertreten wurde, stand, hielt er damals im Vagen. Andernorts hatte er sich deutlicher, wenngleich ambivalent geäußert. In seiner 1972 erschienenen „Deutschlandbilanz“ heißt es: „Für die Franzosen hatte es eine Art kontinuierliche Linie von Bismarck zu Hitler gegeben. […] Der deutsche Einheitsstaat und der totalitäre Staat hingen zusammen.“7 In seinem 1993 veröffentlichten Buch „Mein Deutschland“ behauptete Grosser hingegen, Vermeils Erklärungsmodell habe ihn „nie richtig überzeugt“.8

2011 ging er über diesen Widerspruch elegant hinweg, sprach sich aber vor dem Aumühler Publikum ausdrücklich gegen den alten Topos vom französischen „Erbfeind“ aus. Grosser erinnerte an die positiven Elemente der gemeinsamen Geschichte und wusste dabei mit persönlichen Bezügen zu überraschen. Mitten im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 sei der Vorläufer seiner Hochschule Sciences Po, die Ecole libre des Sciences politiques, gegründet worden, „weil man fand, dass die deutschen Beamten, die preußischen Beamten, besser waren als die französischen, und dass man deswegen den Krieg verloren hatte.“ Noch 2009 habe Frankreich ein seit 1871 im Elsass geltendes „Bismarck-Gesetz in seine Gesetzgebung eingeführt, was aber natürlich so nicht gesagt wird.“

Grosser mochte in seinem Vortrag in Aumühle, wie gesagt, nicht in die Zukunft schauen, und doch wirkten manche seiner Sätze geradezu prophetisch, so etwa, wenn er darauf hinwies, dass der sprichwörtliche deutsch-französische „Motor der europäischen Einigung […] manchmal kein Benzin mehr hat“. Oder wenn er sich „intellektuell [als] pessimistisch“, „genetisch [als] Optimist[en]“ bezeichnete und dann hinzufügte: „Aber bei der heutigen Lage Europas und auch bei Israel [dem er stets kritisch gegenüberstand] versagen meine Gene etwas.“

Am 7. Februar 2024, wenige Tage nach seinem 99. Geburtstag, ist Alfred Grosser in Paris gestorben. Mit ihm ging einer der letzten Wegbereiter der deutsch-französischen Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, ein jahrzehntelanger „Fährmann zwischen Deutschland und Frankreich“9, der seine „Mission“, die Versöhnung in Europa, „mit Witz, scharfer Zunge – und viel Milde“ betrieben hatte10 – allesamt Eigenschaften, die auch seine 2011 publizierte Lebensbilanz durchzogen. Darin erzählte Grosser von dem doppelten Wunsch, dass er vor seiner Frau Anne-Marie sterbe und in die Anzeige seines Ablebens ein Zitat Simone de Beauvoirs nach dem Tod Jean Paul Sartres eingefügt werde: „Sein Tod trennt uns. Mein Tod wird uns nicht wieder zusammenbringen.“ Da seine Frau, so Grosser weiter, „mit der Endgültigkeit der Trennung keineswegs einverstanden sei, wird die Formel weggelassen werden. Allerdings würde ich doch gern kurz auferstehen, um die Nachrufe lesen zu können!“11 Ob sie ihm gefallen?


 

1. Genannt seien vor allem: Alfred Grosser, Frankreich und seine Außenpolitik 1944 bis heute, Taschenbuchausgabe, München 1986; ders./François Goguel, Politik in Frankreich, Paderborn u.a. 1980.

2. Alfred Grosser, Mein Deutschland, Taschenbuchausgabe, Hamburg 1996, S. 36.

3. Ebd., S. 50.

4. Alfred Grosser, L’Allemagne de l’Occident (1945-1952), Paris 1953.

5. Ulrich Lappenküper, Diplomatische Faktoren: Die deutsch-französische Annäherung im europäischen und transatlantischen Zusammenhang 1950-1958, in: Hélène Miard-Delacroix/Rainer Hudemann (Hrsg.), Wandel und Integration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre, München 2005, S. 69 – 86.

6. Alfred Grosser, Motor der europäischen Einigung? Die deutsch-französischen Beziehungen gestern – heute – morgen, in: Ulrich Lappenküper/Guido Thiemeyer (Hrsg.), Europäische Einigung im 19. und 20. Jahrhundert. Akteure und Antriebskräfte, Paderborn u.a. 2013, S. 155 – 169.

7. Alfred Grosser, Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, 4. durchgesehene und erweiterte Aufl., München 1972, S. 59f.

8. Grosser, Mein Deutschland, S. 84.

9. Michaela Wiegel, Ein Fährmann über den Rhein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 2024, S. 6.

10. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 2024, S.1.

11. Alfred Grosser, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011, S. 253.