Mediziner in politischer Mission: Rudolf Virchow – Barrikadenkämpfer und Bismarckgegner

„Rudolph Virchow. Nach einer für die Gartenlaube gefertigten Photographie“, in: Die Gartenlaube 1862, Heft 47, Seite 749

Als Pathologe und Anatom, Anthropologe und Prähistoriker war er unter seinen Zeitgenossen eine Ausnahmeerscheinung. Wissenschaftsgeschichtlich gilt der Ruf Rudolf Virchows noch heute als exzellent: Er entdeckte mit Anfang Dreißig die Zelle als kleinste Einheit des Organismus und beriet als führender Hygieniker seiner Zeit deutsche und ausländische Behörden – Cholera und Tuberkulose, ja sogar Lepra gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zu den wiederholt auftretenden Epidemien in Europa. Zugleich war er bestrebt, seine medizinischen Forschungsergebnisse für die Schaffung einer sozialen Medizin einzusetzen. Virchow stand, etwas zugespitzt, am Anfang unserer heutigen modernen klinischen Forschungs- und Versorgungsmedizin.

Die Persönlichkeit Virchows war zudem von einer weiteren Facette geprägt: Als linksliberaler Politiker stritt er über Jahrzehnte für die parlamentarisch-demokratische Ausgestaltung Deutschlands und rieb sich dabei an seinem Antipoden Bismarck. Diese politische Betätigung soll hier im Mittelpunkt stehen, verbunden mit der dritten Sphäre des Privatmanns, Bürgers und sechsfachen Familienvaters.

Rudolf Virchow wurde 1821 im pommerschen Schivelbein, heute in Polen gelegen, geboren und starb 1902 in Berlin. Dort hatte er 1839 mit dem Medizinstudium den Grundstein für seine Karriere gelegt und seit 1856 für knapp fünf Jahrzehnte als Professor gelehrt. 1848 war diese Karriere durch die Politik unterbrochen worden: Der junge Privatdozent Virchow beteiligte sich in der Revolution, die sich von Frankreich aus in ganz Europa ausbreitete, am Barrikadenbau. Anschließend war er in Preußen unerwünscht.

Er zog daher nach Würzburg, wo er als klinisch forschender Arzt rasch einen Namen hatte. Allerdings fühlte sich seine junge Ehefrau Rose (1832 – 1913) dort zunächst unwohl, denn als zugezogene Preußin fand sie in Mainfranken nur schwer gesellschaftlichen Anschluss – zumal ihr Mann Kontakte in der Stadt mied und seine Zeit lieber im Labor verbrachte. Das änderte sich auch in den folgenden Jahren nicht, aber sie fand – ganz dem aus heutiger Sicht  konservativ erscheinenden Rollenbild entsprechend – Erfüllung in der Erziehung und Umsorgung der gemeinsamen Kinder. Die historische Forschung weiß über diese private Sphäre gut Bescheid, denn seit 2022 liegen 354 Briefe aus den Jahren 1852 bis 1898 gedruckt in zwei dicken Bänden vor. Zwar stammen sie alle aus der Feder des Ehemanns, ihre Gegenbriefe sind nicht erhalten, aber die behandelten Themen lassen sich aus den Briefen des oft ortsabwesenden Professors erschließen.

Virchow unternahm als Anthropologe, Ethnologe und Archäologe Forschungsreisen in immer weiteren Kreisen und überschritt dabei auf der Suche nach frühen Körperformen, Kulturen und Siedlungsformen die Fachgrenzen. Aus Brandenburg, ganz Deutschland, bald ganz Europa und schließlich auch aus Afrika schrieb er unermüdlich an seine Frau. Kinderkrankheiten und andere Familiennachrichten wechseln sich hier mit wissenschaftlichen Skizzen über besuchte Landschaften und Kulturdenkmäler ab, der Ehefrau wurden ausgegrabene Skelette und wilde Theorien über die Herkunft von antiken Völkern präsentiert.

In den privaten Passagen kann man in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts eintauchen. Aber ein Thema, das neben dem Erwachsenwerden der Kinder und den Forschungseindrücken zwischen Moskau und Madrid bzw. zwischen Kopenhagen und Kairo immer wieder anklingt, ist die Politik. Wie auch Bismarck wurde Virchow durch die Revolution der Jahre 1848/49 nachhaltig politisiert. Bismarck war 33, Virchow 27 Jahre alt, beide waren entschlossen, die politischen und gesellschaftlichen Zustände, die ihrem Empfinden nach vor tiefen Verwerfungen standen, mitzugestalten – nur standen sie eben an unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums. Der eine wollte die monarchische Ordnung des Deutschen Bundes aus dem Jahr 1815 erhalten (Bismarck), der andere kämpfte an der Seite des Fortschritts für vollständige demokratische Reformen (Virchow).

„Deutsche Freisinnige Gruppe II, Dr. Vierchow. Nickel. Richter. Dr. Hermes. Dr. Witte Dr. Hänel. Münch. Dr. Bulle Dr. Langerhans. Frhr. v. Unruhe-Bomst“ (Originalbeschriftung), aus dem Fotoalbum „Der Deutsche Reichstag und sein Heim“ von Julius Braatz, 1889

Bismarck, seit 1847 verheiratet, stieg vollberuflich in die Politik ein und wurde bald preußischer Chefdiplomat beim Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt, einem Vorläufer des heutigen Bundesrats, dann Gesandter in St. Petersburg und Paris und schließlich ab 1862 preußischer Ministerpräsident und ab 1871 Reichskanzler des Deutschen Reichs. Virchow nahm 1848 an der Revolution teil und lediglich sein zu geringes Alter verhinderte seine Wahl in die Preußische Nationalversammlung. Aber er übte sich ohnehin mit Rücksicht auf die wissenschaftliche Karriere und die noch nicht erfolgreich abgeschlossene Brautschau zunächst noch einmal in politischer Zurückhaltung. Aber nach seiner Heirat 1850 und der Berufung von Würzburg nach Berlin 1856 begann Virchow, sich neben seiner wissenschaftlichen Arbeit auch politisch zu engagieren. Dieses Engagement sollte nun von Dauer sein.

1859 wurde Virchow Abgeordneter der Berliner Stadtverordnetenversammlung und 1862 Mitglied des Preußischen Landtags (also des Abgeordnetenhauses des größten deutschen Bundesstaats), beide Mandate übte er bis zu seinem Tod 1902 aus. Von 1880 bis 1893 saß er außerdem im Deutschen Reichstag. In allen drei Häusern wirkte er in zahlreichen Gremien, Ausschüssen und Kommissionen „auf den Gebieten der öffentlichen Hygiene und der Bildung“, wie sein Biograf Constantin Goschler schreibt, aber auch in Budget- und Rechnungskommissionen, die den heutigen Haushaltsausschüssen entsprechen – mithin also in Schlüsselpositionen, von denen aus Druck auf die Regierung ausgeübt werden konnte.

Virchow tat dies zunächst auf Seiten der Fortschrittspartei, in der sich Teile der Demokraten und Liberalen nach der steckengebliebenen Revolution von 1848 – in der sie sich noch bekämpft hatten – zusammengeschlossen hatten. Virchows Engagement begann dabei in der Kommunalpolitik, also einer damals wie heute oft als unpolitisch angesehenen praktischen Ebene von Politik, man denke an die vielen parteilosen Kommunalpolitiker oder Mandatsträger. Allerdings gelangte Virchow hier bald zu der Einsicht, dass „die Umgestaltung des Staates von unten nach oben, also von den Kommunen ausgehen sollte“ (Goschler).

Diese Tendenz vollzog sich in der Folge tatsächlich, allerdings in einem größeren Rahmen, als Virchow es ahnen konnte. Bismarck und er waren nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs Zeugen eines fundamentalen Wandels durch die vorher unbekannte Massenpolitisierung. Virchow hatte sich zuvor, wie damals üblich, auf eigene Kosten politisch engagiert und 1859 erst nach seiner Wahl zum Berliner Stadtverordneten von seiner Kandidatur erfahren – politische Freunde hatten ihn einfach auf die Liste gesetzt. Seit Anfang der 1880er-Jahre aber musste er auf moderne Wahlkampfmittel wie Flugblätter und Wahlkampfreden zurückgreifen, da er auf dem politischen Massenmarkt ansonsten nicht ausreichend bemerkt worden wäre.

Zum Erfolg verhalf ihm auch seine Popularität als „Anti-Bismarck“, als der er seit der Duell-Affäre von 1865 galt. Damals war er im Preußischen Landtag ein vehementer Gegner der Politik des Ministerpräsidenten Bismarck, der seit seiner Berufung 1862 gegen dieses Abgeordnetenhaus und damit ohne verabschiedeten Haushalt regierte. In dem Streit ging es vordergründig um eine Militärreform, aber der tiefersitzende Konflikt drehte sich um die Kompetenzen des Parlaments an sich. Zwar setzte sich die Regierung durch, aber nicht ohne vorher verbale Blessuren einstecken zu müssen, die bis dahin beispiellos gewesen waren. Virchow attackierte in seiner Rede am 2. Juni 1865 Bismarck so scharf, dass dieser ihn anschließend zum Duell forderte. Der modern denkende Arzt lehnte ab, mit der simplen Begründung, dies sei keine zeitgemäße Form der Auseinandersetzung mehr. Virchow war nach dieser in den Zeitungen genüsslich verbreiteten Affäre ein Star und nahm die Rolle des linksliberalen Oppositionsführers gegen die Politik Bismarcks gerne an.

Virchow wurde über die Jahre und Jahrzehnte zunehmend in der Öffentlichkeit verehrt, zwar nicht so intensiv wie Bismarck, dem insbesondere nach seiner Entlassung aus allen Ämtern 1890 Jubelfeiern, Denkmäler, Straßenbenennungen, Türme etc. gewidmet wurden. Aber auch Virchow wurde als charismatischer Führungsfigur ein Personenkult zuteil, der uns durch die maßlosen Übersteigerungen in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts völlig fremd geworden ist. So wurde für den altgedienten, inzwischen 71-jährigen linksliberalen Parlamentarier 1892 auf einer Festveranstaltung ein eigens gedichtetes Lied vorgetragen:

 

„So führe Deine Scharen

Stets neuen Siegen zu,

Du Jüngling weiß an Haaren,

Du ‚Marschall Vorwärts“ Du!

Wir stehen zu Dir, wo Du auch stehst,

Wir folgen Dir, wo Du auch gehst!

Und um des Weltalls Runde

Hallts wetterbrausend schier,

ein Gruß aus jedem Munde:

Heil! Rudolf Virchow, Dir!“

 

Der Besungene war zu jener Zeit ein berühmter Politiker, der über mehrere Umbildungen und Abspaltungen hinweg eine unbestrittene Führungsfigur des Liberalismus, insbesondere des Linksliberalismus, war und seit 1884 im Reichstag zur Deutschen Freisinnigen Partei gehörte. Er vertrat liberale Werte im Sinne individueller Rechte, argumentierte gegen den aufkommenden Antisemitismus, hielt nichts von der Kolonialpolitik, war ein Vertreter von Minderheitenrechten und prägte den Begriff „Kulturkampf“ für das Vorgehen Bismarcks gegen den politischen Katholizismus, das er ablehnte. Als sein Hauptziel sah Virchow die Stärkung der Kommunalpolitik sowie die Hebung der medizinischen Standards und des staatlichen Engagements auf diesem Feld an. Dem tradierten Denken der Gebildeten und Vermögenden blieb er allerdings mit Blick auf das Dreiklassenwahlrecht für den Preußischen Landtag verhaftet: Angesichts der Wahlerfolge der Sozialdemokraten auf Reichsebene (wo das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht galt) argumentierte er 1879 auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei vehement für dieses nach Einkommen gestaffelte Dreiklassenwahlrecht und nutzte dabei die übliche liberale „Rhetorik der Unreife und Manipulierbarkeit der niederen Schichten, die erst durch Bildung zur Wahlmündigkeit geführt werden müssten“ (Goschler). In diesem Punkt traf er sich inhaltlich mit dem Reichskanzler. Aber als herausragender Parlamentarier war er per se eine Reizfigur für den Monarchisten Bismarck, der 1871 im Deutschen Reich das gleiche Männerwahlrecht vor allem deshalb eingeführt hatte, weil er sich damit Mehrheiten im Reichstag durch Wählerstimmen der konservativen Landbevölkerung versprach. Dies erwies sich bald als Irrtum, denn viele Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe wanderten in die Städte ab und wählten als Industriearbeiter vor allem die Sozialdemokratie. In deren Ablehnung trafen sich Bismarck und Virchow wieder, denn bei allen Gegensätzen waren sie sich doch ähnlich als Vertreter der gesellschaftlichen Elite fern der unterbürgerlichen Schichten.

Beide waren wirkmächtige Zeugen und Mitgestalter der politischen und damit vor allem der parlamentarischen Ausgestaltung Deutschlands zwischen 1850 und 1900 – der eine als Nationalstaatsgründer und danach als konservativer Beharrer, der andere als ständiger linksliberaler Störer der von der Regierung gewünschten Ruhe. Ihre politischen Tätigkeitsfelder stehen also in einem engen Wechselverhältnis zueinander und beide hatten ihre Freude an politischen Kämpfen und – wie heutige Politiker gerne sagen –  am „Gestalten“. Sie waren, so könnte man sagen, ziemlich beste Feinde.

Rudolf Virchow, undatierte Fotografie (Glasnegativ, digitaler Abzug, Library of Congress, Washington)

Bei der historischen Einordnung Virchows sind – wie aus anderen Gründen bei Bismarck – verschiedene, zum Teil widersprüchliche Tatsachen zu berücksichtigen, die im Kontext der Entwicklungen im 19. Jahrhundert stehen. So ist der Anthropologe und Politiker Virchow trotz herausragender wissenschaftlicher Leistungen als Kind seiner Zeit zu sehen.

Beim Blick auf den Anthropologen, der der Berliner Anthropologischen Gesellschaft von deren Gründung im Jahr 1869 bis zu seinem Tod vorsaß, sehen wir einen Mediziner, der dem sammelnden und kategorisierenden Positivismus seiner Wissenschaftsepoche verpflichtet war. Diesen Vermessungseifer trieb Virchow gegen Ende der 1870er-Jahre auf die Spitze, als er 6,7 Millionen Schulkinder in Deutschland nach Haut-, Haar- und Augenfarbe sowie nach Schädelform erfassen ließ. Die Ergebnisse boten keinen Anhaltspunkt für eine einheitliche „deutsche Rasse“. Die Möglichkeit, über genetische Untersuchungen festzustellen, dass es keine „Menschenrassen“ gibt, stand Virchow zum damaligen Zeitpunkt nicht zur Verfügung. Er forschte anhand seiner ca. 3.000 menschliche Schädel aus allen Kontinenten umfassende Gebeinesammlung weiter, die ihm seiner Ansicht nach die Rasseneinteilung der Menschheit eben doch bestätigte – Human Remains dienten ihm im Sinne der Wissenschaft als (wie wir heute wissen: untaugliche) Datengrundlage. Virchow blendete dabei aus, unter welchen sozialen und machtpolitischen Gegebenheiten die Human Remains überhaupt in seine Sammlung gelangt waren. Der Demokrat war hier bruchlos auch ein Rassist.

Die Person Virchows gibt einen Hinweis darauf, dass die Demokratiegeschichte keine lupenreinen Vorbilder kennt. Trotz heute zu kritisierender Teile seiner wissenschaftlichen Arbeit war er ein politischer Reformer und hat damit seinen Platz als einer der „100 Köpfe der Demokratie“ gefunden. Zudem ist nach ihm die Virchow Foundation benannt, die sich der Förderung der globalen und öffentlichen Gesundheit verschrieben hat.

 

Literatur:

Constantin Goschler:  Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker, Köln u.a. 2002

Rudolf Virchow: Die Ehebriefe Rudolf Virchows an seine Frau Rose (genannt Röschen) 1852 bis 1880, erstmals vollständig in historisch-kritischer Edition vorgelegt von Christian Andree, Hildesheim 2022 (Sämtliche Werke, Abt. IV – Briefe, Bände 6.1 und 6.2)


Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 16. November 2023 an der Leibniz Privatschule Elmshorn im Rahmen einer Veranstaltungsreihe über die Revolution 1848/49 gehalten wurde.