Ein politischer Raum entsteht. Publikation über die schleswig-holsteinische Presse und ihre Wahlberichterstattung (1867 – 1881) erschienen

„Fackelzug zu Ehren des Herzogs Friedrich in Kiel“, 1864.

Als eigenes Bundesland Teil eines geeinten Deutschlands werden – dieser politische Traum einer großen Mehrheit der Schleswig-Holsteiner schien im 19. Jahrhundert in zwei Phasen eine historische Möglichkeit zu sein: während der Revolution von 1848/49 und der sich anschließenden Schleswig-Holsteinischen Erhebung sowie kurz vor und nach dem Deutsch-Dänischen Krieg. Die Realität aber entwickelte sich (zunächst) anders. Die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein wurden zusammen mit dem Herzogtum Lauenburg mit der Übernahme der preußischen Verfassung im Oktober 1867 zur Provinz.

Der wiederholte Versuch, sich politisch zu behaupten, bildet den regionalspezifischen Kern der umfangreichen Analyse, die Tobias Köhler mit seiner Dissertation „Die Berichterstattung der schleswig-holsteinischen Presse anlässlich der Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus (1867 – 1881)“ vorlegt. Wie im Titel angezeigt, ist die Untersuchung der Wahlberichterstattung eingegrenzt auf die Phase zwischen der Wahl zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes und der Reichstagswahl 1881. Das Ende des Beobachtungszeitraums begründet Köhler mit mehreren Faktoren. Dazu gehören die „konservative Wende“ in der Politik von Reichskanzler Otto von Bismarck sowie die Heirat von Prinz Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm II., mit Auguste Viktoria, der ältesten Tochter des ein Jahr zuvor verstorbenen Friedrich VIII. zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg – mit dieser Vermählung sei der Verbleib Schleswig-Holsteins bei Preußen in der öffentlichen Wahrnehmung besiegelt worden.

Köhler bettet die zentralen Fragen seiner Untersuchung – Wie begleiteten die wichtigsten Regionalzeitungen die Wahlkämpfe journalistisch? Griffen sie selbst in den Kampf um Wählerstimmen ein? – in wichtige Entwicklungen und Rechtsetzungen ein. Neben politischen Ereignissen, zu denen die drei sogenannten Einigungskriege und die Reichsgründung gehören, zählen dazu die Genese der schleswig-holsteinischen Parteien- und Presselandschaft, das Versammlungs- und Vereinsrecht, das Landes- und das Reichswahlgesetz, die Pressegesetzgebung sowie als Sonderfall das Sozialistengesetz, das die Sozialdemokratie auch in Schleswig-Holstein vor große Herausforderungen stellte.

Der dänische König Christian IX. (l.) löste mit seinem Versuch, sein Staatsgebiet auf das Herzogtum Schleswig auszudehnen, den Deutsch-Dänischen Krieg aus; der Anspruch von Friedrich VIII. zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (m.), als Herzog Schleswig und Holstein zu regieren, scheiterte an den Plänen Preußens; die Heirat seiner Tochter Auguste Viktoria mit Prinz Wilhelm von Preußen beendete de facto die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schleswig-Holsteiner.

Deutlich wird, wie eng die Herausbildung von Parteien und die Gründung der Regionalzeitungen mit der politischen Entwicklung verzahnt waren: Der dänische König Friedrich VII. war in Personalunion auch Herzog von Schleswig, Holstein und Lauenburg. Als er 1863 verstarb und die geplante Annexion des Herzogtums Schleswig durch seinen Nachfolger Christian IX. den Deutsch-Dänischen Krieg auslöste, formierte sich in beiden Herzogtümern die augustenburgische Bewegung. Diese wollte entgegen einem internationalen Abkommen, aber im Einklang mit den tradierten Regeln der Thronfolge den oben genannten Friedrich zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg als gemeinsamen Herzog sehen. Es sollte anders kommen: „Der Hohenzollernstaat war nicht in den Krieg mit Dänemark eingetreten, um die Wünsche der Schleswig-Holsteiner zu realisieren und dann still und leise das Feld zu räumen“, erläutert Köhler. Die praktischen Konsequenzen zeigt er am zwischenzeitlichen Verbot der Tageszeitungen, die die Rechtmäßigkeit der preußischen Machtübernahme nach 1864/1867 infrage stellten. Außerdem wurde Druck auf die dänische Minderheit in Nordschleswig (die sich dem dänischen Königreich zugehörig fühlte) ausgeübt, um deren Assimilation voranzutreiben.

Der Landwirt und Politiker Hans Andersen Krüger war zunächst Mitglied des dänischen Reichsrats (1853 – 1863) und vertrat dann von 1867 bis 1880 die dänische Minderheit im Reichstag in Berlin.

Das restriktive Vorgehen Preußens bei der Eingliederung der neuen Provinz in die eigenen Verwaltungs- und Rechtsstrukturen setzte den Rahmen der weiteren Entwicklung. So wurde zwar die Vernetzung örtlicher Wahlvereine und damit die Bildung von Parteien ermöglicht, die Pressefreiheit aber weiterhin durch vielfältige Vorgaben behindert. In einem Exkurs untersucht Köhler auch die staatliche Einmischung in die Presselandschaft durch geheime finanzielle Unterstützung, die sich aus dem „Reptilienfonds“ Bismarcks speiste – also aus den Zinsgewinnen der beschlagnahmten Privatvermögen des hannoverschen Königs Georg V. und des hessischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. Diese Zuwendung erhielten konservative, dem preußischen Staatsministerium gegenüber positiv gestimmte Blätter. Deren Auflage lag weit hinter denen der liberal gesinnten Zeitungen zurück – ein Zustand, der von den Lesern beim Kauf „ihrer“ Zeitung entschieden wurde. Der Erfolg der Bismarck‘schen Pressepolitik sei daher überschaubar geblieben, konstatiert Köhler.

Nach der ausführlichen Darstellung dieser vielfältigen Entwicklungen und Einflussfaktoren stellt Köhler auf der Basis einer fragebogengestützten Inhaltsanalyse die Wahlberichterstattung von fünf wichtigen Zeitungen vor: Flensburger Norddeutsche Zeitung, Schleswiger Nachrichten, Kieler Zeitung, Itzehoer Nachrichten und Flensborg Avis – mit letzterer wird die dänische Minderheit mit ihrem wichtigsten Blatt berücksichtigt.

Gemeinsam sind diesen Zeitungen, wie Köhler unter dem Stichwort „Leserservice“ aufzeigt, die mit jeder Wahl wiederkehrenden ausführlichen Informationen über das Wahlprozedere. „Die Darstellung von Parteien und Kandidaten“ war dann vor allem eines: explizit parteiisch. Jedes Blatt war den gesamten Untersuchungszeitraum über einer der politischen Strömungen zuzuordnen, was ungefiltert zum Ausdruck kam. Ein Beispiel, das Köhler aufzeigt, ist die Berichterstattung der Flensburger Norddeutschen Zeitung anlässlich der Abgeordnetenhauswahlen im Oktober 1879. Die leitenden Redakteure standen der Nationalliberalen Partei nahe, stellten diese ausführlich vor, kritisierten sie aber auch und gaben ihr den Ratschlag, wieder zum „‚entschiedenen Feinde der Fortschrittspartei‘“ zu werden, wie Köhler sie zitiert. Andere Kandidaten, die ihnen nicht zusagten, wurden praktisch ignoriert. Ein Beispiel aus den Schleswiger Nachrichten aus dem gleichen Zeitraum illustriert zudem, dass die Redaktionen mit ihrer Konkurrenz nicht zimperlich umgingen: Die Bewerbung eines Kandidaten durch die Tondersche Zeitung wurde als nutzloses Unterfangen abgetan. Nur die Itzehoer Nachrichten ließen trotz eigener Parteilichkeit über den gesamten Untersuchungszeitraum „eine stark ausgeprägte Meinungspluralität“ zu.

Der Historiker Theodor Mommsen (l.) war auch als Abgeordneter des Preußischen Landtags und des Reichstags aktiv. Mit seiner Kandidatur im Wahlkreis Ostholstein-Fehmarn für die Fortschrittspartei und die Liberale Vereinigung (Sezession) scheiterte er allerdings – er hatte seinen Wahlkampf schriftlich von Berlin aus bestritten; der liberal gesinnte Unternehmer Wilhelm Hans Ahlmann gründete 1864 die Kieler Zeitung und war von 1867 bis 1873 Abgeordneter im Preußischen Landtag

Die oftmals äußerst selektive Nachwahlberichterstattung der Blätter legt den Schluss nahe, dass die Redaktionen mitunter weniger Einfluss auf das Wahlergebnis hatten als erhofft – bei unliebsamen Ergebnissen wurde der entsprechende Wahlkreis gelegentlich komplett ignoriert. Um die Platzierungen der Kandidaten nachvollziehen zu können, hat Köhler seine Untersuchung mit einem wahlstatistischen Anhang versehen.

Insgesamt spiegelt die Untersuchung die politische Integration Schleswig-Holsteins in Preußen und in das Kaiserreich: Die Akteure in Parteien und Presse nahmen mehr und mehr Abschied von der Idee eines von Preußen unabhängigen Schleswig-Holsteins. War die Berichterstattung anfangs auf die regionalen Ereignisse konzentriert, weitete sich der Fokus entsprechend auf die preußische und gesamtdeutsche Innenpolitik – dies gilt auch für den Flensborg Avis, der aber weiterhin die Kandidaten der dänischen Minderheit fest im Blick hatte.

Die Beharrungskräfte im Norden sollten erst später ihre Wirkung entfalten: 1920 wurde nach einer Volksabstimmung in Nordschleswig die deutsch-dänische Grenze im Sinne der dänischen Minderheit neu gezogen; 1946 sprach die britische Militärregierung der preußischen Provinz Schleswig-Holstein den vorläufigen Status eines Landes zu, 1949 gründete sich das Bundesland Schleswig-Holstein als Teil der Bundesrepublik Deutschland.

 

Tobias Köhler
Die Berichterstattung der schleswig-holsteinischen Presse anlässlich der Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus (1867 – 1881)
Paderborn 2023 (Wissenschaftliche Reihe der Otto von Bismarck-Stiftung 31)

 

 

 

 

 

 


Bildnachweise:

„Fackelzug zu Ehren des Herzogs Friedrich in Kiel“, 1864. Zeitgenössische Illustration von August Beck (Königliche Bibliothek Kopenhagen)

Christian IX., Fotografie von Carl Sonne (Königliche Bibliothek Kopenhagen)

Herzog Friedrich von Schleswig-Holstein, Gartenlaube Nr. 51/1863

Kaiserin Auguste Viktoria, Fotografie von Reichard & Lindner, Berlin 1890

Hans Andersen Krüger, Fotografie von Peter Most (Königliche Bibliothek Kopenhagen)

Theodor Mommsen, Fotografie

Wilhelm Hans Ahlmann, Fotografie, um 1900