Vom Souvenir zum Politikum: Bismarcks Olivenzweig
Im Kanon der Erzählungen über Otto von Bismarck, der sich schon zu seinen Lebzeiten in der Öffentlichkeit zu verbreiten begann, zählt an prominenter Stelle seine „Eisen und Blut“-Rede, die er am 30. September 1862 als designierter Ministerpräsident vor der Budgetkommission des Preußischen Landtages hielt. An deren Ende soll er den Zweig eines Olivenbaums als Zeichen seiner friedlichen Absichten präsentiert haben.
Die Darstellung dieses historischen Moments ist seit jenem Tag ausgeschmückt und mit Mutmaßungen versehen worden, wie ein Streifzug durch die Bismarck-Bibliothek in Friedrichsruh zeigt. Gesichert ist, dass Bismarck, der als Gesandter Preußens in Paris diente, im Sommer 1862 eine ausgedehnte Reise in den Südwesten Frankreichs unternahm. Anstatt den Urlaub bei seiner Frau Johanna und den drei Kindern im pommerschen Reinfeld zu verbringen, suchte der Diplomat – der hoffte, von König Wilhelm I. in die Regierung berufen zu werden – Erholung möglichst weit weg von Berlin. Dort spitzte sich währenddessen die politische Lage zu: Die Regierung, die nur dem König verantwortlich war, und der Preußische Landtag konnten sich nicht über eine Heeresreform einigen. Das einzige Druckmittel, das den Abgeordneten zur Verfügung stand, war die Blockade des preußischen Haushalts. In dieser Situation entschloss sich König Wilhelm I. nun doch, den politisch polarisierenden, aber vermutlich durchsetzungsstarken Bismarck an die Spitze seiner Regierung zu stellen. Bismarck reiste nach Berlin und sprach schon bald nach seiner Ankunft mit den Mitgliedern der Budgetkommission, um das Problem im Sinne der Krone zu lösen.
Bismarck nutzte in seiner Rede die Formulierung „Eisen und Blut“. Diese machte schnell die Runde und wurde schon am 12. Oktober 1862 auf der Titelseite der Satirezeitschrift „Kladderadatsch“ in einem Spottgedicht verarbeitet – Bismarck hatte sich offenbar nicht nur vor der Budgetkommission, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit Eindruck verschafft. Der Wortlaut seiner Rede ist allerdings nur kolportiert, denn auf der besagten Sitzung war kein Stenograph zugegen. Kurios ist auch die Geschichte des Olivenzweigs, den Bismarck vorgezeigt haben soll. Für diese Geste findet sich in einem der ersten Bücher über Bismarck, sein Leben und seine Politik – „Das Buch vom Grafen Bismarck“ von George Hesekiel, 1869 – kein Hinweis; auch in zahlreichen anderen Veröffentlichungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden weder Rede noch Olivenzweig oder die Rede nur kurz erwähnt. 1878 zitiert dann aber Ludwig Hahn mit dem Anspruch auf historische Korrektheit Bismarck: „Diesen Olivenzweig habe ich in Avignon gepflückt, um ihn der Volkspartei als Friedenszeichen anzubieten; ich sehe jedoch, daß es noch nicht Zeit dazu ist.“ Eine Quelle wird, wie in jener Zeit üblich, nicht genannt und ist in verschiedenen Editionen der Reden und Briefe Bismarcks auch nicht zu finden.
Nach der Entlassung Bismarcks 1890 nimmt die Erzählung über Rede und Olivenzweig konkretere Formen an und nährt den Bismarck-Mythos. In den für ein breites Publikum publizierten „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Fürsten Bismarck“ von Hermann Robolsky, 1890 erschienen, wird noch eher zurückhaltend ein Augenzeuge jener Sitzung der Budgetkommission zitiert – ohne Nennung des Olivenzweigs. Bald aber scheint sich der Kenntnisstand bemerkenswert zu verändern: Im gut verkauften „Bismarck-Kalender“, mit dem Wilhelm Köhler in Minden seinem neugegründeten Verlag finanziell auf die Beine geholfen hatte, erschien 1892 der Beitrag „Der Oelzweig aus Avignon. Aus Bismarck’s Leben erzählt von Julius Stein“. Der Journalist berichtete dreißig Jahren nach dem Geschehen ohne Quellenangaben und mit vermutlich frei erfundenen Zitaten, wie Bismarck in den Besitz des besagten Zweigs gekommen sei sowie von dessen Einsatz vor den Abgeordneten: Er habe in Avignon das frisch vermählte Paar Lüning aus Frankfurt am Main getroffen – zu denen er auch später Kontakt gehabt habe – und in deren Gegenwart eine Depesche des Königs erhalten, mit der er nach Berlin beordert worden sei (Bismarck erhielt tatsächlich am 15. September 1862 in Avignon eine entsprechende Nachricht). Auf einer Ausfahrt habe ihm Madame Lüning dann einen Zweig von einem Baum abgebrochen und mit dem Worten geschenkt „Möge er Ihnen als Friedenskündiger mit Ihren Gegnern nützlich sein.“ Bismarck habe diesen Zweig in eine Brieftasche gesteckt und am 30. September vor der Budgetkommission mit den Worten hervorgeholt: „Diesen Oelzweig habe ich von Avignon mitgebracht, um ihn der Fortschrittpartei als Friedenszeichen zu bieten; ich sehe aber, daß ich damit zu früh komme!“ Stein gibt dann die Rede scheinbar wörtlich wieder: „Deutschland sieht nicht auf den Liberalismus, sondern auf die Macht Preußens. Preußen muss seine Kraft zusammenhalten, damit der günstige Moment nicht wieder verpaßt wird. Nicht durch Reden und Beschlüsse, wie 1848 und 1849, werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut!“ Anschließend dramatisierte Stein die Szene weiter: „Dabei zerdrückte seine Rechte krampfhaft ein Zweiglein mit welken Blättern und ließ den Staub zur Erde sinken. Das war der Oelzweig von Avignon.“
Diese Beschreibung wurde wiederholt mehr oder weniger wortgleich – ohne die Schlussszene – in andere Publikationen übernommen, beispielsweise in den großformatigen Band „Das Bismarck-Museum in Wort und Bild. Ein Denkmal deutscher Dankbarkeit“ von 1899. Abweichend davon gibt Paul Liman in den ebenfalls 1899 veröffentlichen „Bismarck-Denkwürdigkeiten“ sogar die ganze (?) Rede vor der Budgetkommission im – vermeintlichen – Wortlaut wieder und schließt ab mit dem Bismarck-Zitat aus der erwähnten Publikation von Ludwig Hahn.
Belastbare Hinweise auf die Herkunft des Olivenzweigs bieten ein Zigarrenetui und ein Brief, den Bismarck am 16. September 1863 an Fürstin Katharina Orlowa sandte – seine Briefe an sie wurden Jahrzehnte später, im Jahr 1935, von ihrem Enkel Nikolai Orloff herausgegeben. In diesem auf Französisch abgefassten Brief erinnert er an die glücklichen Tage, die er mit ihr und ihrem Mann Nicolai (dabei waren ferner eine Kusine der Fürstin, ihre alte Erzieherin und ihre deutsche Zofe) im Sommer 1862 in Biarritz verlebte. Über seine Liebe zu ihr und die intensiv verbrachte gemeinsame Zeit hatte er damals sogar seiner Frau brieflich berichtet. Das Ehepaar Orlow – er diente als Botschafter Russlands in Brüssel und kannte seinen preußischen Kollegen seit 1856 – und Bismarck waren dann am 1. September 1862 gemeinsam aus Biarritz abgereist und verbrachten noch zwei Wochen in den Pyrenäen. Auf dieser Abschiedsreise sammelte Bismarck Souvenirs, um sich an diese für ihn kostbare Zeit später zu erinnern. Er zählte sie in dem Brief ein Jahr später auf, verbunden mit der Hoffnung, Katharina Orlowa bald wiederzusehen: „En attendant je me console à ouvrir mon porte-cigare, où je trouve toujours, à côté d’une de Vos grosses épingles, une petite fleur jaune, cueillie à Superbagnères, une mousse du Port de Vénasque et une branche d’olivier de la terrasse d’Avignon; sentimentalité allemande, direz-Vous.“ („Inzwischen tröste ich mich damit, mein Zigarettenetui zu öffnen, wo ich neben einer Ihrer großen Nadeln immer eine kleine gelbe Blume finde, in Superbagnères gepflückt, ein Moos aus Port de Venasque und einen Olivenzweig von der Terrasse in Avignon; deutsche Sentimentalität, sagen Sie.“) – sie waren gemeinsam auf dem Port de Venasque, einem Gebirgspass an der französisch-spanischen Grenze, gewandert, und hatten Superbagnères, einen Ort auf der französischen Seite der Pyrenäen, besucht. Am 14. September hatten sich ihre Reiserouten in Avignon getrennt.
Bismarck bewahrte das Zigarrenetui auf, heute ist es im Bismarck-Museum Friedrichsruh zu sehen. Der Olivenzweig aus Avignon und die Haarnadel Katharina Orlowas zeugen noch immer von diesen fernen Urlaubstagen.
Das Zigarrenetui ist als September-Kalenderblatt im Wandkalender „Durchlauchtigster Fürst“ zu sehen.
Literatur
Otto von Bismarck: Auszug aus der „Blut und Eisen”-Rede (1862), in: Reden 1847 –1869, herausgegeben von Wilhelm Schüßler, Berlin 1928, S. 139 – 40 (Gesammelte Werke, Band 10)
Bismarck-Biografie.de: Bismarck als Ministerpräsident 1862 bis 1871
Grousilliers, A. de, unter Mitwirkung von W. L. Schreiber: Das Bismarck-Museum in Wort und Bild. Ein Denkmal deutscher Dankbarkeit, Berlin 1899
Ludwig Hahn: Fürst Bismarck. Sein politisches Leben und Wirken urkundlich in Thatsachen und des Fürsten eigenen Kundgebungen dargestellt, Berlin 1878 (Erster Band bis 1870)
George Hesekiel: Das Buch vom Grafen Bismarck, Bielefeld und Leipzig 1869
Andrea Hopp: Im Schatten des Staatsmanns. Johanna, Marie und Marguerite von Bismarck als adelige Akteurinnen (1824 – 1945), Paderborn 2022
Wilhelm Köhler Verlag: Wir feiern 150 Jahre
Ulrich Lappenküper: Bismarck und Frankreich 1815 bis 1898, Paderborn 2019
Paul Liman: Bismarck-Denkwürdigkeiten, Berlin 1899
Nikolai Orloff: Bismarck und Katharina Orloff. Ein Idyll in der hohen Politik, München 1935
Anonym [Hermann Robolsky]: Bismarck in Petersburg – Paris – Berlin, Leipzig 1885
Anonym [Hermann Robolsky]: Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Fürsten Bismarck, Leipzig 1890
Julius Stein: Der Oelzweig aus Avignon. Aus Bismarck’s Leben erzählt, in: Bismarck-Kalender, herausgegeben von Wilhelm Köhler, Minden 1895