Der imperiale Nationalstaat – Rückblick auf den Vortrag von Prof. Dr. Jörn Leonhard über das Deutsche Kaiserreich in internationaler Perspektive
Das Deutsche Reich sei „in Ungerechtigkeit geboren“ und „in Schmach geendet“. Mit diesem Zitat des damaligen französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré aus seiner Eröffnungsrede der Versailler Friedenskonferenz 1919 setzte Prof. Dr. Jörn Leonhard (Universität Freiburg) zu Beginn seines Vortrags einen wichtigen Akzent. Unter dem Titel „Der imperiale Nationalstaat: Das Deutsche Reich in internationaler Perspektive“ eröffnete er am Montag dieser Woche die wissenschaftliche Tagung, zu der die Otto-von-Bismarck-Stiftung in Kooperation mit der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach Bonn eingeladen hatte. Gewidmet war sie der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85, ihrer historischen Einordung und den Nachwirkungen.
Leonhard setzte zwei Schwerpunkte. Zunächst zeigte er auf, wie sich in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts im politischen Diskurs „Nationalität und Imperialität“ miteinander verbanden. Schon die erste Nationalversammlung habe 1848/49 in der Paulskirche die zukünftige deutsche „Weltpolitik“ diskutiert. Dabei hätten drei Räume eine Rolle gespielt: Afrika, Südosteuropa und Kleinasien sowie der Osten des europäischen Kontinents. Nach der Reichsgründung 1871 sei Reichskanzler Otto von Bismarck zwar von der Saturiertheit Deutschlands ausgegangen, aber diejenigen, die koloniale Interessen verfolgten, hätten damit begonnen, sich gesellschaftlich zu organisieren. Bei der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 habe dann die Hoffnung bestanden, die Kolonialpolitik als europäisches Projekt zu organisieren und damit zugleich innereuropäische Konflikte abzuleiten. Leonhard identifizierte für diesen Zeitraum in Deutschland einen „Strukturwandel des Nationalismus“ hin zu einem völkischen Selbstverständnis, verbunden mit einem neuartigen Misstrauen gegenüber ethnischen Minderheiten und einem nun rassistisch aufgeladenen Antisemitismus – vor dem Hintergrund dieser Gedankenwelt, so wird deutlich, wurden die ersten deutschen Kolonien gegründet.
Im zweiten Schwerpunkt skizzierte Leonhard die internationalen Beziehungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende, die von widersprüchlichen Entwicklungen gekennzeichnet gewesen seien. Zwar habe es eine Hochphase der internationalen Kooperation gegeben, in der beispielsweise das Völkerrecht signifikant weiterentwickelt worden sei. Gleichzeitig habe sich die imperiale Konkurrenz zu einem globalen Phänomen ausgebildet, der imperiale Nationalstaat sei mit Erwartungen überfrachtet worden. Unter diesem Eindruck habe sich Deutschland in Einkreisungsängste gesteigert.
In dieser Phase seien Kolonialkriege geführt worden, so Leonhard, die von einer Steigerung der Gewaltanwendung, der Ausübung von Vergeltungsmaßnahmen und Internierungen geprägt gewesen seien. Diese Erfahrungen hätten nach 1914 auf Europa zurückgewirkt: auf die Staaten, die im Ersten Weltkrieg kämpften und ihn zu einem globalen Imperialkrieg gemacht hätten, und insbesondere auf Deutschland, in dem sich in Teilen der Gesellschaft ein Verständnis von Nation ausgeprägt habe, das rassistisch konnotiert gewesen sei. Diese Entwicklung gehöre zur „unbequemen Ambivalenz“ des Kaiserreichs.