Bismarck und der Stuhl aus Donchéry
In wie vielen Geschichtsbüchern mag sie verewigt sein, die Szene, als Kaiser Napoleon III. am Tag nach der Schlacht von Sedan bei der preußischen Regierung um einen günstigen Waffenstillstand nachsuchte? „Ungewaschen und ungefrühstückt“, so erfahren wir aus einem Brief Otto von Bismarcks an seine Frau Johanna1, ritt der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes am frühen Morgen des 2. September 1870 auf des Kaisers Bitte von seinem Quartier in Vendresse aus Richtung Sedan. Auf der Landstraße bei Donchéry, einem kleinen Ort an der Maas, trafen sie sich, der eine zu Pferd, der andere im offenen Wagen. Nach kurzer Wegstrecke kehrten sie in das Weberhäuschen der Madame Fournaise-Liban ein, kletterten über eine schmale Stiege in das niedrige Zimmer im ersten Stock und ließen sich zu ihren politischen Beratungen auf zwei gleichartigen „Binsenstühlen“ nieder. Einer der Stühle kündet noch heute im Bismarck-Museum Friedrichsruh von dem historischen Moment. Wie aber gelangte er in den Besitz Bismarcks? Dank eines Namenszuges auf der Lehne, einer Urkunde im Bismarck-Archiv und einiger Informationen und Zeitungsartikel, die uns der pensionierte niederländische Lehrer und Bibliothekar Jos Erdkamp hat zukommen lassen, können wir den Schleier lüften.
Am Anfang der spannenden Geschichte steht der Fotograf Anton Balduin Schwarz. Geboren am 27. Juni 1842 in Köln, arbeitete er von 1867 bis 1870 im belgischen Gent, anschließend in Brüssel. Nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 reiste er nach Süden, um das Kriegsgeschehen direkt in Augenschein zu nehmen. Am 18. September traf er in Sedan ein, begab sich zur Königlich Preußischen Kommandantur und bat um die Genehmigung, auf den Kriegsschauplätzen fotografieren zu dürfen. Der Zufall wollte es, dass Schwarz dort seinen alten Schulfreund Eduard Keller wiedersah, einen Landwehrmann, der der Kommandantur als Dolmetscher diente. Wie Keller Jahrzehnte später der „Kölnischen Zeitung“ berichtete2, erhielt Schwarz nicht nur die Genehmigung, sondern auch einige Soldaten, unter anderem Keller, als Eskorte. Gemeinsam erkundeten sie die Gegend nach passenden Bildmotiven und kamen auch zu dem Weberhäuschen, wo Madame Fournaise-Liban gern Auskunft über den Besuch der hohen Herrschaften zu Beginn des Monats gab. Keller war davon so beeindruckt, dass er Schwarz riet, jenen Rohrgeflechtstuhl, auf dem Bismarck gesessen hatte, zu erwerben. Für drei Franken wechselte das Möbel prompt seinen Besitzer. Zurück auf der Kommandantur schnitten Keller und seine Begleiter als Zeichen der Echtheit ihre Namen in die Lehne und stellten Schwarz sogar eine Besitzurkunde aus. „Wir Endesunterzeichnete“, so heißt es in dem heute im Bismarck-Archiv schlummernden Dokument, „bescheinigen hiermit dem Herrn Anton Balduin Schwarz aus Cöln, daß er den historisch bekannten Stuhl wo Graf Bismarck mit Kaiser Napoleon seine Unterhandlungen zur Capitulation Sedans begann, käuflich erwarb wie dieses durch Unterschriften der beistehenden Zeugen preußischer Mannschaft und dem Besitzer des benannten Stuhls bescheinigt wird.“3
Anders als von Keller gedacht, sollte Schwarz den Stuhl allerdings nicht, wie versprochen, an das Museum ihrer Heimatstadt Köln abgeben. Wie die Witwe des 1891 verstorbenen Fotografen der „Kölnischen Zeitung“ berichtete4, veräußerte er ihn vielmehr dem Generalvertreter der Brauerei „Zum Münchener Bräuhaus“, Fritz Behmer. Mitte 1885 brachte ein niederrheinisches Anzeigenblatt die Nachricht, Behmer habe den Stuhl an den Restaurator Sauer, Besitzer des Restaurants „Zum alten Fritz“ in der Berliner Friedrichstraße, weiterverkauft.5 Auch Eduard Keller las den Artikel und machte sich auf den Weg in die deutsche Hauptstadt, um die Nachricht zu prüfen. Nachdem er sich anhand der Namenszüge auf der Lehne von der Echtheit des Stuhls überzeugt hatte, erzählte er dem Eigentümer die Geschichte vom Erwerb in Donchéry. Sauer war von der Schilderung so berührt, dass er sich als Bismarckverehrer genötigt sah, das Möbel Bismarck zu schenken. Ende September 1885 informierte Keller den Reichskanzler über die Absicht Sauers und erhielt nach wenigen Tagen ein freundliches Dankschreiben.
Wann der Stuhl aus Donchéry in Friedrichsruh eintraf, ist unbekannt. Wir wissen aber, dass der Alt-Reichskanzler ihn sechs Jahre später in seinem neu eröffneten Museum in Schönhausen ausstellen sollte. Es dürfte ihm kaum gefallen haben, dass der nach seinem Tod veröffentlichte voluminöse Museumskatalog das Objekt als „ordinären Holzstuhl“ bezeichnet, „dessen aus Stroh geflochtener Sitz vielfach zerrissen ist“.6 Der Stuhl mag einfach sein, der Sitz zerrissen, und dennoch weiß er eine Geschichte zu erzählen, die noch heute wissenswert ist. Bei einem Besuch im Bismarck-Museum kann man sich davon persönlich überzeugen und zugleich eine Fülle weiterer Geschenke an den ersten deutschen Reichskanzler besichtigen.7
1. Otto an Johanna von Bismarck, 3.9.1870, in: Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 14/II Briefe 1862-1898. Hrsg. von Wolfgang Windelband/Werner Frauendienst, Berlin 1933, S. 789f., S. 790.↩
2. Zum Folgenden s. den Bericht Kellers in: „Kölnische Zeitung“, Nr.1041, 13.10.1915.↩
3. Otto-von-Bismarck-Stiftung, Bismarck-Archiv, Inv.-Nr. A 045.↩
4. Vgl. „Kölnische Zeitung“, Nr.1257, 11.12.1915.↩
5. „Dorf-Chronik verbunden mit dem Grafschafter (Anzeigenblatt für den Kreis Moers, Umgegend und den Niederrhein)“, 40. Jg., Nr.51, 26.6.1885.↩
6. A. de Grousilliers, Bismarck-Museum in Bild und Wort. Ein Denkmal deutscher Dankbarkeit, Leipzig 1899, S.173.↩
7. Einen Eindruck von der Vielfalt des Bismarck-Geschenke und den Motiven der Schenkenden liefert die Publikation von Fridrun Freise/Thorsten Logge/Ulf Morgenstern (Hrsg.), Kanzlergeschenke. Kulturgeschichte(n) des Schenkens, Hamburg 2020.↩