Eine Standuhr erzählt Geschichte(n)

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Im Empfangsbereich des Bismarck-Museums steht die Standuhr, die Gustav Becker 1885 Otto von Bismarck schenkte (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

Diese Standuhr hat – zusätzlich zu ihrer Aufgabe, das Voranschreiten der Minuten und Stunden anzuzeigen – auch eine Zeit festgehalten: jene um den 1. April 1885. Otto von Bismarck wurde an diesem Tag 70 Jahre alt und der Kult, der sich um ihn entwickelte, unübersehbar. Es fanden Festveranstaltungen statt, Huldigungen wurden verfasst und Geschenke zum Wohnsitz des Reichskanzlers in Friedrichsruh geschickt. Dazu zählte auch eine eindrucksvolle Standuhr.

Standuhr, Geschenk der Uhrenfabrik Gustav Becker aus Freiburg (Schlesien), Deutschland, um 1885, Holz, Metall, Glas, Bismarck-Museum, Friedrichsruh, Inventar-Nr. A 002

Der Uhrenfabrikant Gustav Becker aus dem schlesischen Freiburg (heute Świebodzice) überreichte damit nicht nur einen verlässlichen Zeitmesser, sondern auch eine hölzerne Momentaufnahme der Biografie des Reichskanzlers. Der Korpus ist eine Arbeit des Magdeburger Bildhauers Franz Kiefhaber. Den Mittelteil widmete er den persönlichen Daten Bismarcks und rahmte sie links und rechts mit Jahreszahlen und Ortsnamen, die auf politische Ereignisse verweisen. Die Chronologie verläuft von unten nach oben, auf dem Sockel sind mit „Schönhausen 1. April 1815“ Geburtsort und -datum vermerkt. Darüber sind links ein Atlant und rechts eine Karyatide in gekrümmter Haltung zu sehen, die traurig an „Berlin 1848“ und „Olmütz 1850“ erinnern – Zeiten, in denen sich das preußische Königshaus in seiner Machtstellung bedroht sah. Es folgen Verweise auf Bismarcks Studium, Ausbildung und Heirat, auf seine Karriere als Diplomat, seine Aufenthalte in Biarritz und Salzburg, begleitet u.a. von Hinweisen auf die Einigungskriege, die Kaiserproklamation in Versailles sowie die Annexion von Elsass und Lothringen. Abgeschlossen wird dieser geschnitzte und gedrechselte Lebenslauf mit Hinweisen auf die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85, den Erwerb deutscher Kolonien und das „Arbeiter-Gesetz“, womit das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter von 1883 gemeint ist und möglicherweise auch das Unfallversicherungsgesetz von 1884; das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung wurde erst 1889 erlassen. Außerdem symbolisieren Figuren wie ein Herkules und Engelsgesichter die Stationen im Fortlauf der deutschen Geschichte. Die Erzählung, die die Standuhr bietet, ist aber nur für diejenigen verständlich, die mit Bismarcks Biografie und der deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert vertraut sind.

Uhrenfabrikant Becker und Bildhauer Kiefhaber dokumentierten mit diesem Geschenk, was aus zeitgenössischer Sicht seiner Anhänger zu den politischen Leistungen des Reichskanzlers zählte. Strittige Themen wie der Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus, die diskriminierende Minderheitenpolitik und das sogenannte Sozialistengesetz werden ebenso wenig berücksichtigt wie die Verfassung des Kaiserreichs, die keine weitere Demokratisierung zuließ.

Zum Zeitpunkt der Schenkung konnte der knapp 66-jährige Becker auf eine gelungene berufliche Karriere zurückblicken. Am 2. Mai 1819 im schlesischen Oels (heute Oleśnica) geboren, war er als junger Uhrmachergeselle auf Wanderschaft nach Frankfurt am Main, La Chaux-de-Fonds, Dresden, München, Berlin und Wien gegangen. In Wien arbeitete er bei einem Meister, der für seine genau gehenden Pendeluhren bekannt war. 1847 machte sich Becker in Freiburg mit einem Uhrengeschäft selbstständig und begann wenige Jahre später mit der Produktion von Pendeluhren. Die prächtige Standuhr, die Bismarck erhielt, wurde als die 500.000ste seines Werks gezählt. Nach Beckers Tod am 14. September 1885 übernahm sein Sohn das Unternehmen. Es sollte schließlich 1930 mit anderen Betrieben unter dem Namen Gebrüder Junghans AG fusionieren, die Fertigung in Freiburg wurde 1932 aus wirtschaftlichen Gründen beendet.

In dem Band „Das Bismarck-Museum [in Schönhausen] in Wort und Bild“ ist nachzulesen, dass Bismarck die Standuhr „so wohl gefiel, daß er sie in Friedrichsruh zurückbehielt, wo sie die gerechte Bewunderung aller Gäste des Fürsten erregte“. Seit Jahrzehnten schmückt sie nun den Empfangsbereich des Museums, wird alle 14 Tage aufgezogen und läuft immer noch präzise.

 

Quellen:

Jürgen Abeler
Meister der Uhrmacherkunst
Wuppertal 1977
(zitiert auf Uhrenhanse.de)

Bismarck-Museum Friedrichsruh
Inventarverzeichnis

Grousilliers, A. de, unter Mitwirkung von W. L. Schreiber
Das Bismarck-Museum in Wort und Bild. Ein Denkmal deutscher Dankbarkeit
Berlin 1899

Andreas Kel
Gustav Becker – Taschenuhren aus Schlesien
Blogbeitrag auf watch-movements.eu 2022


Die Standuhr ist im Wandkalender „Durchlauchtigster Fürst“ als Januar-Kalenderblatt zu sehen.