Ein schwieriger wissenschaftlicher Diskurs in turbulenten Zeiten
„Warschauer Zerrbilder“ betitelte Reinhard Veser jüngst einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die politischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland. So lügenhaft und verzerrt das von der Warschauer Regierung gezeichnete Bild von Deutschland auch sei, dürfe dieses Verhalten aber nicht den Blick dafür versperren, „dass es im deutsch-polnischen Verhältnis tiefer liegende Probleme gibt, für die nicht die polnische Seite verantwortlich ist“. Konkret meinte Veser damit eine aus der Geschichte erwachsene „asymmetrische Beziehung“ sowie ein bis in die Gegenwart reichendes „herablassendes Verhalten von Deutschland gegenüber Polen“.
Lebendiges Anschauungsmaterial für die aktuellen Schwierigkeiten im polnisch-deutschen Verhältnis lieferte eine vom West-Institut Poznan in Kooperation mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Otto-Bismarck-Stiftung organisierte Konferenz über „Deutsche Russlandpolitik: Geschichte – Gegenwart – Perspektiven“, die am 25. Oktober im Centrum Zielna, Warschau, stattfand. Dass die durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ausgelösten politischen Verwerfungen in Europa die wissenschaftliche Sphäre nicht unberührt lassen würden, konnte kaum überraschen. Doch auch ohne sie wären die Diskussionen in Warschau wohl kaum weniger kontrovers verlaufen. Zu tief saß das Unverständnis so manches polnischen Teilnehmers für die preußische bzw. deutsche Russlandpolitik der vergangenen 300 Jahre.
Dabei hatten die Vorträge von Prof. Dr. Grzegorz Kucharczyk über „Preußische Russlandpolitik im 18. und 19. Jahrhundert“, von Prof. Dr. Ulrich Lappenküper über „Bismarck und Russland“, von Prof. Dr. Jaroslaw Centek über „Deutsch-sowjetische militärische Kontakte in der Ära der Weimarer Republik“, von Prof. Dr. Stefan Creuzberger über „Von Adenauer bis Brandt. Die Wendepunkte der westdeutschen Russlandpolitik 1955 – 1970“ und von Prof. Dr. Stanislaw Zerko „Von Kohl bis Merkel. Die Kontinuität der deutschen Russlandpolitik“ das deutsch-russische Verhältnis eher sachlich-nüchtern und wissenschaftlich entfaltet. Doch schon die in der anschließenden Diskussion aufgeworfene Frage, wieso es denn im Laufe der Geschichte in Deutschland so wenig „Polen-Versteher“ gegeben und dieses Deutschland keine alternative (also propolnische) Russlandpolitik betrieben habe, gab einen fundamentalen Perspektivenunterschied zu erkennen. Während die deutschen Vertreter das deutsch-russische Verhältnis als ein Element einer multidimensionalen deutschen Außenpolitik analysierten, konzentrierten sich die polnischen ganz wesentlich auf die Konsequenzen dieses Verhältnisses für Polen und zogen daraus den Schluss, die deutsche Geschichtswissenschaft argumentiere rein „interessengeleitet“ und machtpolitisch, die polnische dagegen „wertebetont“.
Den Höhepunkt der Deutschland-Kritik erreichte die Konferenz in einer abschließenden Podiumsdiskussion polnischer Politik- bzw. Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die deutsche Russlandpolitik seit der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“. Dass die Bundesrepublik mit ihrer seit den 1970er-Jahren betriebenen Politik des „Wandels durch Handel“ Schiffbruch erlitten hat und die Politik der „Zeitenwende“ innerhalb Deutschlands keineswegs unumstritten ist, konnte durchaus als Konsens zwischen Podium und Plenum gelten. Dass der Bau der Nord-Stream-2-Pipeline Ausdruck einer Korruptionsanfälligkeit deutscher Eliten sei, diese Anfälligkeit die europäische Einigung untergrabe und in Deutschland Anzeichen einer Erosion der transatlantischen Bindungen bemerkbar seien, stieß hingegen hier und da, bei polnischen wie bei deutschen Repräsentanten, auf kritische Nachfragen. Entschieden zurückgewiesen wurde von deutscher Seite die mehr oder minder explizit von polnischen Vertretern gestellte Forderung, jegliche Zusammenarbeit mit der russischen Autokratie dauerhaft einzustellen und stattdessen eine strategische Zusammenarbeit mit Polen und Frankreich auf- und auszubauen. Dass Deutschland und die EU nach der Beendigung des Krieges in der Ukraine trotz aller Notwendigkeit einer verstärkten innereuropäischen Zusammenarbeit den Dialog mit der russischen Nuklearmacht wieder aufnehmen müssen, schien für manchen polnischen Vertreter eine nicht nachtvollziehbare Perspektive. Das vom Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung präsentierte historische Argument, schon Friedrich der Große habe den Abschluss des preußisch-russischen Bündnisses von 1764 mit den „Grundregeln der Staatskunst“ begründet, „ein Bündnis mit dem unter seinen Nachbarn zu suchen, der dem Staate die gefährlichsten Schläge versetzen kann“, sollte die polnische Position ebenso wenig erweichen wie sein ergänzender Hinweis, es gehe nicht nur um Sicherheit vor Russland, sondern auch darum, die großen globalen Fragen der Zeit nur gemeinsam mit Russland lösen zu können.
In diesem Sinne wäre es wünschenswert, wenn die polnische Seite den einst von Bismarck ventilierten Grundgedanken internationaler Beziehungen akzeptieren würde, dass „man nicht Schach spielen kann, wenn einem 16 Felder von 64 von Hause aus verboten sind“. Zugleich hat Reinhard Veser recht, wenn er im erwähnten Leitartikel betont, dass „auf deutscher Seite mehr Offenheit, Respekt und Verständnis“ für die polnischen Nachbarn entwickelt werden müsse.