Bismarck war kein Freund Russlands. Rückblick auf den Vortrag von Prof. Dr. Horst Günther Linke
Pflegte Reichskanzler Otto von Bismarck besondere Beziehungen zu Russland? Diese Frage begleitet die Bismarck-Rezeption schon lange, hat aber angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine eine neue Virulenz gewonnen. Eine kenntnisreiche, auf historische Dokumente gestützte Analyse der Vergangenheit der deutsch-russischen Beziehungen kann maßgeblich zu ihrer Beantwortung beitragen, wie Prof. Dr. Horst Günther Linke (Universität Bonn) am Donnerstag bei seinem Vortrag mit dem Titel „Bismarcks russischer Gegenspieler – Fürst Aleksandr M. Gorčakov“ im Historischen Bahnhof Friedrichsruh aufzeigte.
Der Historiker hat in seinen jüngsten Publikationen Leben und Politik des russischen Kanzlers und Außenministers Fürst Aleksandr M. Gorčakov (1798 – 1883) und dessen Beziehungen zu Bismarck ausgeleuchtet, als Grundlage dienten auch die reichhaltigen Quellenbestände russischer Archive. Gorčakov war nicht nur über Jahrzehnte eine, wenn nicht die prägende Persönlichkeit der russischen Politik, sondern auch ein enger Bekannter Otto von Bismarcks. Ihr persönlicher Kontakt und brieflicher Austausch, in dem der eine den anderen auch blumig umschmeichelte, könnte tatsächlich den Eindruck erwecken, dass zwischen ihnen und damit ihren Ländern ein besonderes Verhältnis bestanden habe.
Prof. Dr. Linke erläuterte auf der Grundlage seiner Forschung, wie trügerisch dieser Eindruck ist. Die deutsch-russischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren vielmehr von Machtpolitik geprägt, für die je nach Situation der erfolgversprechendste Bündnispartner gesucht wurde. Er untermauerte diese Feststellung mit mehreren Beispielen der europäischen Geschichte dieser Zeit, die außenpolitisch von Kriegen und wechselnden Bündnissen geprägt war. Gorčakov neigte in den 1860er-Jahren dem französischen Kaiserreich unter Napoléon III. zu, Zar Alexander II. sah eher die Deutschen als Partner. Waren sich Preußen und Russland zwar grundsätzlich einig, so Prof. Dr. Linke, die jeweils von ihnen besetzten Gebiete Polens unter ihrer Herrschaft zu halten, wollte doch Gorčakov polnische Eliten für Russland gewinnen, während Bismarck konsequent auf Unterdrückung ihrer politischen Aktivitäten setzte. Gorčakov war ein konservativer, in den (vermeintlich) erprobten Bahnen des außenpolitischen Handelns denkender Politiker, Bismarck betrieb zum Vorteil Preußens „Realpolitik“ und setzte die Gründung des deutschen Nationalstaates nach drei gewonnenen Kriegen auf eine Art und Weise um, die Gorčakov – Prof. Dr. Linke verwies auf die Annexionen und die Absetzung des Königs von Hannover – als inakzeptabel empfand.
Der gute persönliche Kontakt zwischen diesen beiden Staatsmännern war also wiederholt politischen Spannungen ausgesetzt, die in den 1870er-Jahren mehrfach zu Meinungsverschiedenheiten führten und am Ende in ein persönliches Zerwürfnis mündeten. Einig blieben sich Bismarck und Gorčakov jedoch in einem Punkt, wie Prof. Dr. Linke herausarbeitete: Sie verloren niemals die Interessen ihres eigenen Landes aus dem Blick. Besondere außenpolitische Rücksichtnahmen, die durch machtpolitische Absichten nicht gedeckt waren, wären – so lässt es sich als Fazit ziehen – weder dem einen noch dem anderen in den Sinn gekommen.
Literatur:
Hans Günther Linke
Bismarck und Gorčakov. Verlauf und Beweggründe einer spannungsreichen Beziehung
Friedrichsruh 2021 (Friedrichsruher Beitrag 52)
Horst Günther Linke
Fürst Aleksandr M. Gorčakov (1798–1883). Kanzler des russischen Reiches unter Zar Alexander II.
Paderborn 2020