Blick in die Ausstellung auf „Die Proklamierung des deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871)“, Anton von Werner (1843 – 1915), Deutschland, 1885, Öl auf Leinwand (Bismarck-Museum Friedrichsruh, Inventar-Nr.: A 049, Foto: Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)
Das „Herzstück“ der Sonderausstellung findet sich in der vierten Sektion: das Gemälde „Die Proklamierung des deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871)“. Der Maler Anton von Werner, der Augenzeuge des historischen Augenblicks war, fertigte im Laufe der Jahrzehnte vier Fassungen seiner Darstellung an, nur diese dritte – ein Geschenk der kaiserlichen Familie an Otto von Bismarck – ist erhalten geblieben. Das großformatige Bild hat seinen festen Platz im Bismarck-Museum Friedrichsruh und diente als Ausgangspunkt der gesamten Konzeption der Sonderausstellung „1870/71. Reichsgründung in Versailles“.
In dieser Sektion wird noch einmal besonders deutlich, dass die Reichsgründung ein historisches Ereignis war, das als Teil einer politischen und militärischen Entwicklung zu verstehen ist. Die Dynamik dieser Entwicklung im Zeitraum vom November 1870 bis April 1871 wird an den gezeigten Exponaten sichtbar, die fünf Unterkapiteln zugeordnet sind: Die Novemberverträge – Triumph und Demütigung: Der 18. Januar 1871 – Frieden: Von Versailles nach Frankfurt – Sieger: Rückkehr in die Heimat – Die Reichsverfassung.
Reichsgründung im Krieg
Die französische Kriegserklärung vom 19. Juli 1870 löste in Nord- und Süddeutschland eine Welle nationaler Begeisterung aus. Die deutsche Nationalbewegung bekam Auftrieb und beeinflusste die öffentliche Meinung in ihrem Sinne. Wenn auch nicht für alle Deutschen, so stand doch für die Mehrheit außer Frage, dass nach dem gemeinsam errungenen Sieg über den „Erbfeind“ die deutsche Einigung stehen müsse.
Für die liberale und nationale Bewegung stellte die Gründung des Deutschen Reiches die Erfüllung eines langgehegten Traums dar, auch wenn das wichtige Ziel einer Parlamentarisierung des Regierungssystems noch nicht erreicht worden war. In der Kaiserproklamation von Versailles erblickten viele Deutsche das zentrale Symbol ihres Sieges über Frankreich und ihrer Nationalstaatsgründung. Für die Franzosen bedeutete dieses Ereignis hingegen eine schwere Demütigung.
Das neue Reich mit seinen 41 Millionen Einwohnern war für das europäische Staatensystem ein tiefer Einschnitt. In der Mitte des Kontinents entstand ein Machtzentrum, dem aufgrund seiner Bevölkerungszahl, militärischen Kraft sowie wirtschaftlichen Stärke eine Führungsrolle zufallen sollte.
Die Deputation des Norddeutschen Reichstags in Versailles. Holzstich nach einer Skizze von Friedrich (Fritz) Schulz (um 1823 – 1875), Deutschland, 1871, Papier (Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, Inventar-Nr. ZSg 2494) Am 18. Dezember 1870 empfing Wilhelm I. in Versailles eine Abordnung des Reichstags des Norddeutschen Bundes unter Leitung des Reichstagspräsidenten Eduard von Simson (1810 – 1899). Diese bat den König, die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Um den Anschein eines demokratisch legitimierten Kaisertums zu vermeiden, wollte Wilhelm I. zunächst abwarten, bis der Aufruf der Fürsten an ihn ergangen war, den Kaisertitel anzunehmen.
Ludwig II. (1845 – 1886), König von Bayern. Kupferstich von Johann Lindner (1839 – 1906), Deutschland, 1874, Papier, Holz, Glas (Bismarck-Museum Friedrichsruh, Inventar-Nr. A 065); Kaiserbrief Ludwigs II. (Reproduktion), Deutschland, 1870, Papier (Leihgabe aus Privatbesitz). Ludwig II. von Bayern trat im Juli 1870 an der Seite Preußens in den Krieg gegen Frankreich ein. In den Verhandlungen über die Gründung des neuen Nationalstaats war er jedoch auf die Wahrung seiner Stellung und der des Hauses Wittelsbach bedacht. Dennoch kam er dem Wunsch Bismarcks nach und forderte im „Kaiserbrief“ vom 30. November 1870 (rechts die erste Seite) als Angehöriger des ältesten regierenden Fürstenhauses im Namen der deutschen Bundesfürsten und der Freien Städte den preußischen König auf, den Kaisertitel anzunehmen.
Französische Karikatur über die Kaiserproklamation und den Krieg. Frankreich, 1871, Papier (Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, Signatur: F 400-0034). Der Tag der Kaiserproklamation wurde aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Daher berichteten nur wenige Zeitungen in kurzen Sätzen über das Ereignis. Die französischen Reaktionen auf die Proklamation im Schloss Ludwigs XIV. waren einhellig negativ. Die Karikatur zeigt den neuen Kaiser Wilhelm I., dessen Thron auf einem Leichenberg steht und der von Gevatter Tod gekrönt wird. Derweil versinkt ein anderer Kaiser – Napoleon III. – mitsamt seinem Thron vor rauchenden Trümmern in einem Meer von Toten.
Erstes Wappenzeichen des Deutschen Reiches zur Kaiserproklamation in Versailles. Deutschland/Frankreich, 1871, Seide, Samt, Gold-Lamé, Glas, Holz (Leihgabe Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Inventar-Nr. SPSG, IX 7696). Das provisorische Reichswappen wurde während der Kaiserproklamation benutzt. Statt eines doppelköpfigen Adlers – seit dem 14. Jahrhundert Symbol für das Kaisertum im Heiligen Römischen Reich – entschieden sich die Verantwortlichen für einen einköpfigen Adler mit roter Zunge. Auf der Brust ruht der schwarz-weiße Hohenzollern-Schild, über dem Adlerkopf schwebt eine Kaiserkrone.
Karte mit Aufstellung der deutschen und französischen Armeen am 26. Februar 1871. Deutschland, nach 1871, Papier (Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh). Die Karte zeigt die Aufstellung der deutschen und französischen Armeen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vorfriedens von Versailles am 26. Februar 1871.
Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs. Deutschland, 1871, Papier (Bundesarchiv, Berlin, Signatur: R 5201/5, Bl. 10). Die Reichsverfassung basierte auf der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 sowie den Novemberverträgen von 1870. Nach der Reichsgründung wurden einige Begriffe geändert und die Sonderrechte der süddeutschen Bundesstaaten eingefügt. Durch das Gesetz vom 16. April 1871 trat die neue Verfassung rückwirkend zum 1. Januar in Kraft. Sie war ein Kompromiss zwischen überkommenem Obrigkeitsstaat und demokratischer Teilhabe und vor allem ein Staatsorganisationsstatut, weil sie nur wenige Grundrechte enthielt. Diese waren in den Landesverfassungen garantiert.