Zwischen Tagespolitik und Personenkult: Schriften 1890 – 1898
Presseartikel, Schreiben an Monarchen, eine rege Korrespondenz mit adligen wie bürgerlichen Bekannten und Bewunderern sowie die Abfassung der „Gedanken und Erinnerungen“ – aus den letzten acht Lebensjahren Otto von Bismarcks liegt eine Fülle von Schriften vor. Sie geben über zweierlei Auskunft: Wie der Reichskanzler a. D. trotz zunehmender Isolation und nachlassender Arbeitskraft vorging, um weiterhin auf die Tagespolitik Einfluss zu nehmen und um sich – möglichst über seinen Tod hinaus – die erinnerungsstrategische Deutungshoheit über sein Lebenswerk zu sichern.
Nach seiner Entlassung aus allen Ämtern beflügelte es Bismarcks Popularität, dass er jedem Wunsch nach einer persönlichen Zuschrift nachkam. In Friedrichsruh trafen bald körbeweise Broschüren, Petitionen, Gedichte aus dem In- und Ausland, Kompositionen, Traktate, Fotografien und neueste Arbeiten von Wissenschaftlern ein. Der Jurist Paul Laband schickte ihm seine mehrbändige Abhandlung zum deutschen Staatsrecht, Ernst Bötticher, ein Kontrahent Heinrich Schliemanns, berichtete von seinen Ausgrabungen in Troja, der Historiker Heinrich von Treitschke und später seine Witwe Emma sandten Treitschkes neueste Publikationen. Bismarck gab zu erkennen, dass er alles las und zu schätzen wusste, auch den Gruß eines Radfahrerclubs.
Von dem Versuch, auch weiterhin aktiv Einfluss auf die Tagespolitik zu nehmen, zeugen die Artikel, die in Friedrichsruh für eine Veröffentlichung in den „Hamburger Nachrichten“ vorbereitet wurden. Die aufgefundenen Schriften erlauben zumindest teilweise, die Entstehungsgeschichte einiger dieser Artikel nachzuvollziehen: Den jeweils ersten Entwurf verfasste nicht selten Rudolf Chrysander, der in jenen Jahren als Hausarzt und zugleich als Privatsekretär fungierte. Von den Entwürfen sind jene abgedruckt, die Bismarck sich – analog zu den Diktaten für die Presse in der Reichskanzlerzeit – nachweislich zu eigen gemacht hat: entweder indem er die Entwürfe selbst korrigierte oder aber wenn für einen in der Zeitung abgedruckten Artikel aus der Familienkorrespondenz hervorgeht, dass die Vorlage von Bismarcks Hand stammt.
Für diesen Band wurden insgesamt 1.354 Dokumente zusammengetragen. Ein Drittel, 466 Dokumente, wurde hiervon für den Abdruck ausgewählt, knapp die Hälfte werden erstmals publiziert. Während der vorhergehende Band der „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ mit Bismarcks Entlassungsgesuch endet, beginnt dieser neunte Band mit seiner Reaktion auf die kaiserlichen Abschiedsworte und -bestimmungen. Abgedruckt ist die Version vom 22. März 1890. Analog zum Entlassungsgesuch, für das Bismarck lange um möglichst souveräne Formulierungen rang, existieren auch hier mehrere Vorstufen. Das letzte sowohl aufgenommene als auch aufgefundene Dokument datiert vom 12. Juli 1898 und ist mithin etwas mehr als zwei Wochen vor seinem Tod aufgesetzt worden. Es handelt sich um ein wenige Zeilen langes Dankesschreiben an den deutschkonservativen Politiker Wilhelm von Minnigerode-Rossitten.
Da Bismarck nach seiner Entlassung seine Schriften als Privatmann verfasste, verlagerte sich die Recherche für diesen Band von staatlichen Archiven auf eine Vielzahl von kleineren und größeren Archiven und Bibliotheken im In- und Ausland, in denen einzelne Nachlässe und Handschriftensammlungen zu finden sind. Ein Beispiel hierfür ist der Nachlass des Bankiers Gerson von Bleichröder, der in der Baker Library der Harvard University verwahrt wird. Ein Kernbestand an Schriften jener Jahre war allerdings unkompliziert zugänglich: im Bismarck-Archiv in Friedrichsruh.
Holger Afflerbach, Konrad Canis, Lothar Gall und Eberhard Kolb (Hrsg.)
Otto von Bismarck. Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe
Abteilung III: 1871–1898. Schriften, Band 9: 1890–1898
bearbeitet von Andrea Hopp
Paderborn 2021