Eine „konservative Progressive“. Zum 10. Todestag von Dr. Helga Stödter
Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) durch Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt gewann die Frauenbewegung in Deutschland 1865 zwar eine organisierte Form, aber keine Einheit. Während der ADF sich besonders für das Recht der Frauen auf Bildung und Erwerbsarbeit einsetzte, kämpften andere Zweige der Frauenbewegung für den Aufbruch gesellschaftlicher Normen oder die politische Partizipation. Dank des kontinuierlichen Ausbaus der Industrialisierung gerieten seit der Errichtung des Deutschen Reiches 1871 die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie Arbeiterinnen- und Mutterschutz in den Fokus der Vereine. Im wilhelminischen Deutschland fächerten sie sich so weit auf, dass eine Vernetzung dringend geboten schien. Doch auch unter dem Dach des 1894 geschaffenen Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) gab es Kontroversen und Konflikte – etwa über die bürgerliche Ehe- und Familienform, die Stellung lediger Mütter oder die politische Gleichberechtigung. Während das Frauenwahlrecht nach dem Ende des Kaiserreichs tatsächlich umgesetzt wurde, blieben die Forderungen nach der Gleichberechtigung von Frauen im Berufsleben oder der finanziellen Absicherung lediger Mütter bis in die Bonner Republik hinein virulent.
Besonders aktiv wirkte auf diesen beiden Feldern die Juristin Dr. Helga Stödter, die einer breiteren Öffentlichkeit jüngst durch die Presseberichterstattung über ihre Teilnahme an den Rastatter Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt geworden ist.
Geboren am 9. März 1922 als Tochter eines Regierungsbaumeisters mit hugenottischer Abstammung und einer Handelsschullehrerin, wuchs Helga Kloninger in den unruhig-turbulenten Zeiten der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ in der Reichshauptstadt Berlin auf. Nach dem Abitur an der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin-Zehlendorf 1940 begann sie ein Studium der Auslandswissenschaften, Zeitungswissenschaften und Volkswirtschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Zum Sommersemester 1941 wechselte sie vor dem Hintergrund familiärer Wurzeln im Südwesten Deutschlands an die Universität Tübingen. Schon ein Jahr später konnte Helga Kloninger ihr Studium mit einem Diplom in Volkswirtschaft beenden. 1944 wurde sie mit einer Dissertation über „Die deutsche Aktienbörse im heutigen Kriege“ zur Dr. rer. pol. promoviert1; noch im selben Jahr folgte der Abschluss eines Zweitstudiums in Jura mit der Ersten Staatsprüfung. Kaum war der Zweite Weltkrieg vorbei, geriet die junge Volkswirtin und Juristin unvermittelt in den Blick der französischen Besatzungsmacht.
Nach dem Sieg über Hitler-Deutschland gehörte die Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen zu den vornehmsten Zielen der Alliierten. Im August 1945 schufen sie den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zur Aburteilung von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die ursprüngliche Absicht, dem im Oktober 1946 beendeten Prozess weitere Verfahren unter gemeinsamer Gerichtshoheit folgen zu lassen, ließ sich aufgrund der tiefen Gegensätze in der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition nicht mehr realisieren. Stattdessen richteten die Alliierten eigene Militärgerichtshöfe in ihren jeweiligen Besatzungszonen ein – so auch in der französischen Besatzungszone, wo die frisch examinierte Juristin Dr. Helga Kloninger deutsche Mandanten zunächst vor den Militärgerichten in Tübingen, Calw und Reutlingen und dann vor dem Generaltribunal in Rastatt verteidigen musste.
Am 2. Dezember 1946 begann für sie im Rastatter Schloss der Dienst als Pflichtverteidigerin. Das von der französischen Militärverwaltung eingerichtete Tribunal général fungierte sowohl als erstinstanzliches Gericht, als Berufungsgericht und als Internationaler Gerichtshof für den gesamten Bereich der französischen Besatzungszone. Bis 1956 wurden hier in etwa 20 Strafverfahren die Urteile über mehr als 2000 Angeklagte gesprochen, denen Verbrechen an Fremdarbeitern und Gefangenen in diversen kleineren nationalsozialistischen Lagern in Südwestdeutschland zur Last gelegt wurden. In 295 Fällen sollte Helga Kloninger tätig sein.
Trotz ihres jungen Alters und des noch nicht beendeten juristischen Referendariats trat sie mit Fachkunde und Furchtlosigkeit auf und gewann so den Respekt der Richter wie auch der Ankläger. Wie eine spätere Freundin, die Hamburger und Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit, einmal prägnant formulierte, forderte die Pflichtverteidigerin für ihre Mandanten „keine Gnade, sondern Gerechtigkeit“.2 Im Rückblick erfüllte es sie mit einiger Erleichterung, dass keiner ihrer Mandanten zum Tod verurteilt worden war.3
Noch ehe der durchaus bedrückende Einsatz in Rastatt beendet war, heiratete Helga Kloninger 1949 einen Arzt und brachte eine Tochter zur Welt, die sie allein erziehen sollte, weil die Ehe scheiterte. Mit dem erfolgreich absolvierten Zweiten juristischen Staatsexamen in der Tasche nahm sie 1950 die Einladung des US-Außenministeriums zu einer Reise in die USA an, um als „national leader“ die amerikanische Demokratie kennenzulernen. 1951 ließ sich Helga Kloninger als Anwältin in Stuttgart nieder, bewarb sich dann aber ein Jahr später beim Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland und wurde nach Abschluss der Ausbildung 1953 an das Generalkonsulat London versetzt. Nachdem sie auf einer Seerechtskonferenz in Schottland den Hamburger Juristen und Reeder Prof. Dr. Rolf Stödter kennengelernt hatte, bekam ihr Leben eine neue Wendung.
1960 beendete Helga Kloninger ihren Dienst an der 1955 zur Botschaft erhobenen diplomatischen Vertretung an der Themse, ließ sich 1961 vom Auswärtigen Amt in den einstweiligen Ruhestand versetzen und mit ihren mittlerweile zwei Töchtern als Rechtsanwältin in Hamburg nieder. Nach der Eheschließung mit Rolf Stödter 1964 begann für die „Preußin aus tiefster Seele“ (Alix Stödter) in ihrer neuen Wahlheimat Hamburg ein neues Leben: zunächst als Co-Vorstand ihres ‚kleinen Familienunternehmens‘ und Anwältin, seit Ende der 1960er-Jahre zudem als ehrenamtlich tätige Kämpferin für die Gleichberechtigung der Frau in Ehe und Beruf, für alleinerziehende Mütter und für die Rechte unehelicher Kinder.4
Als 1967, im Jahr der Geburt ihrer dritten Tochter, von Luise Schöffel ein Verein alleinerziehender Mütter gegründet wurde, gehörte Helga Stödter mit Alice Schwarzer bald zu den namhaftesten Unterstützerinnen. 1972 schuf sie einen Hamburger Landesverband und übernahm den Vorsitz. Nach der Umbenennung in Verein der alleinerziehenden Mütter und Väter 1976 blieb Helga Stödter der Institution als Ehrenvorsitzende verbunden. Seit 1972 leitete sie überdies für zehn Jahre den Deutschen Juristinnenbund, von 1973 bis 1975 außerdem die Dachorganisation westlich orientierter Juristinnenverbände (FIDA). Um die gesellschaftlichen Hemmnisse bei der Übertragung von Führungsaufgaben auf Frauen abzubauen, beteiligte sich Helga Stödter 1984 am Aufbau des European Women’s Management Development Network (EWMD) und fungierte von 1986 bis 1988 als deren Präsidentin. 1987 gründete sie die Vereinigung für Frauen im Management (FIM), die weibliche Führungskräfte in Deutschland vernetzte, um ihre beruflichen Chancen zu stärken. Ein Jahr später schuf sie eine ihren Namen tragende Stiftung, die sich der Beratung und Schulung von Managerinnen und Unternehmerinnen verschrieb. 2007 erweiterte die Stiftung ihren Zweck auf markante Weise und verfolgte fortan das Ziel eines „Mixed Leadership“ in Unternehmen. Mit dem von der Namensgeberin initiierten „Helga-Stödter-Preis der Handelskammer Hamburg“ zeichnen Stiftung und Handelskammer seit 2012 jährlich Hamburger Unternehmen für „Mixed Leadership“ aus.
Ungeachtet all dieser zeitaufwendigen Tätigkeiten war Helga Stödter 1998 auch noch dem neu gegründeten Förderverein der Otto-von-Bismarck-Stiftung beigetreten. Unter der Leitung seines Vorstandsvorsitzenden Michael von Schmude und dessen Stellvertreterin Helga Stödter unterstützte der Verein die ein Jahr zuvor vom Deutschen Bundestag errichtete Stiftung mit zahlreichen materiellen wie immateriellen Fördermaßnahmen. Neben dem Interesse an öffentlichkeitswirksamer Stiftungsarbeit dürfte sie zur Mitgliedschaft wohl vornehmlich ihr Lebensmotto animiert haben: „Wenn Du etwas bewegen kannst, dann tue es“.5 Doch die Motivation zum Beitritt allein auf das Instrumentelle zu beschränken, greift zu kurz, wie das Bismarck-Gemälde verdeutlicht, das in ihrem Haus in der Nähe von Hamburg hing. Wenn sie an Veranstaltungen der Stiftung teilnahm, ließ sie ein positives, aber nicht unkritisches Bismarck-Bild durchschimmern.6
Mit ihrem Engagement für die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft dürfte Helga Stödter kaum dem Frauenbild des ersten Reichskanzlers entsprochen haben. Dennoch lassen sich unschwer gewisse Affinitäten zwischen ihr und Bismarck erkennen: ihr beiderseitiges Preußentum; die Nähe zur französischen Kultur; das „konservativ Progressive“ (Susanne Kippenberger) der Verfechterin der Rechte der Frauen hier und des „weißen Revolutionärs“ (Lothar Gall) dort.
Vor zehn Jahren, am 29. Mai 2011, endete ein langes, erfülltes Leben voller Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Mut und Kampfgeist – Eigenschaften, die auch Otto von Bismarck nicht fremd waren.
1. Helga Kloninger, Die deutsche Aktienbörse im heutigen Kriege, phil. Diss. Universität Tübingen 1944.↩
2. Nachruf von Lore Maria Peschel-Gutzeit auf Helga Stödter, in: Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes (djbZ) 3/2011, S.141f., S.141.↩
3. Vgl. Vera Bloemer, Mit Empörung und Begeisterung. Ermutigungen von Frauen, Führungspositionen zu übernehmen: Dr. Helga Stödter und die Helga Stödter-Stiftung, in: dies., Stifterinnen. Frauen erzählen von ihrem Engagement – ein Lesebuch, Berlin 2010, S.219-225.↩
4. Vgl. Hauke Friederichs, Unerschrocken für die Wahrheit, in: Die ZEIT, 29.4.2011, S.12; Susanne Kippenberger, Alles was Recht ist, in: Tagesspiegel, 2.5.2021, S. S7.↩
5. https://www.helga-stoedter-stiftung.de/stiftung/stifterin/ (abgerufen am 1. Mai 2021).↩
6. Mündliche Auskunft des ersten Geschäftsführers der Stiftung, Prof. Dr. Michael Epkenhans.↩