„Mein liebes Billchen“. Vor 120 Jahren starb Wilhelm von Bismarck
Die Biografen seines Vaters und seiner Familie haben ihn meist nur mit wenigen Zeilen bedacht. Im Vergleich zu seinem Bruder Herbert wird er als der zwar klügere, aber weniger ambitionierte Sohn charakterisiert. Dennoch hat Wilhelm von Bismarck, genannt „Bill“, es vermocht, seinen eigenen Platz im Leben zu finden und zugleich mit seiner Familie eng verbunden zu bleiben, wie die erhaltenen Briefe seines Vaters an ihn bezeugen. Vor 120 Jahren, am 30. Mai 1901, starb das jüngste der drei Kinder Otto von Bismarcks im pommerschen Varzin.
Berlin, 1. August 1859 – Mein liebes Billchen, […] da heut Dein Geburtstag ist, will ich Dir doch meinen Glückwunsch schicken, schwarz auf weiß. […] Die liebe Mama pflegt mich Tag und Nacht und wir sind beide recht traurig, daß wir nach Wiesbaden ins warme Wasser gehen sollen, anstatt bei Euch in Reinfeld zu sein. […] Dein treuer Vater
Es war eine behütete Kindheit, die Wilhelm von Bismarck erlebte. Geboren wurde er am 1. August 1852 in Frankfurt, im damaligen Zuhause der Familie in der Bockenheimer Landstraße 40 (später 104). Sie waren im Jahr zuvor an den Main gezogen, weil sein Vater Otto preußischer Gesandter am Bundestag geworden war. Seine Mutter Johanna bezeichnete die Frankfurter Jahre später als die glücklichste Zeit in ihrem Leben. Den ersten Schulunterricht Wilhelms und seines zweieinhalb Jahren älteren Bruders Herbert übernahm ein Hauslehrer. 1859 wurde der Vater zum preußischen Gesandten am Hof des Zaren ernannt. Otto von Bismarck reiste Ende März zunächst allein nach St. Petersburg, Mitte Juli trat er seinen Heimaturlaub an. Eine schwere Erkrankung und lange Phase der Erholung ließen ihn dann erst im Juni 1860 auf seinen Posten zurückkehren und dieses Mal reiste er mit seiner Familie. Dort und für die längeren Aufenthalte mit der Mutter und den Geschwistern bei den Großeltern im pommerschen Reinfeld wurde wieder ein Hauslehrer engagiert, damit die Diplomatenkinder nicht nur die Welt kennenlernten, sondern auch Bildung erwarben.
Hatte die Familie in Wilhelms ersten Lebensjahren viel Zeit miteinander verbracht, war der Vater nun noch häufiger auf Reisen – und damit immer wieder ausgerechnet an den Geburtstagen seines Jüngsten abwesend, was er in seinen Glückwunschbriefen bedauerte. Im April 1862 wurde er dann zum Gesandten in Frankreich ernannt und ließ die Familie abermals in Reinfeld zurück.
Paris, 7. Juli 1862 – Mein liebes Billchen, ich habe mich über Deinen Brief neulich sehr gefreut, und ich würde Dir schon früher geantwortet haben, wenn ich nicht die vorige Woche hindurch in England gewesen wäre, wo ich mir täglich so viele wunderliche Dinge ansehn mußte, daß ich garnicht zur Besinnung kam. […] In London hatten sie eine Industrie-, eine Gemälde-, eine Hunde-, eine Ochsen, Pferde-, Schweine-, Schafe- und Maschinenausstellung. […] Tausende von Maschinen, die schnurrten und rasselten, zum Pflügen, Mähen, Säen, Dreschen, Ziegelstreichen und Lokomotiven, die auf der ebenen Erde ohne Schienen umherliefen wie wildgewordene Pferde […] In England war übrigens wärmere Luft als hier, aber dennoch ist es ein Glück, daß wir nicht dahin versetzt wurden, das sage Deiner lieben Mama, denn das Haus dort ist so klein und unbequem, daß ich garnicht weiß wie wir uns da hätten einschachteln sollen […]. Dein treuer Vater v. B.
Im September 1862 wurde Vater Otto preußischer Ministerpräsident und die Familie zog nach Berlin. Im Amtssitz wurde ein Schulzimmer eingerichtet, und nun kümmerte sich ein Predigtamtskandidat um den Unterricht der Brüder, während ihre Schwester Marie von einer französischen Gouvernante betreut wurde. Als Wilhelms zwölfter Geburtstag nahte, war sein Vater abermals auf Reisen – nach dem Ende des Deutsch-Dänischen Krieges fanden in Wien die Friedensverhandlungen statt.
Wien, 29. Juli 1864 – Mein lieber Bill, es ist recht schlimm, daß ich an Deinem Geburtstage niemals bei Dir sein kann; ich glaube seit 4 Jahren nicht, wo wir ihn wohl zusammen in Petersburg feierten; im vorigen Jahr war ich in Gastein zu der Zeit, 1862 in St. Sebastian, 1861, wenn ich mich nicht sehr irre, in Coblenz oder Baden, und nun muß ich mich hier mit den Dänen quälen, bei sehr großer Hitze und viel Arbeit. […] Jetzt muß ich wieder auf ein großes diner, wo die Leute viel Unbequemes mit mir reden wollen. […] Dein treuer Vater v. B.
1866 wechselte Wilhelm zusammen mit Herbert zum ersten Mal auf eine staatliche Schule, auf das Friedrichswerdersche Gymnasium in Berlin. Die Briefe des Vaters waren nun nicht mehr an ein Kind gerichtet, sondern an einen heranwachsenden jungen Menschen, den Otto von Bismarck zunehmend an seinem politischen Leben teilhaben ließ. So schrieb er ihm kurz vor der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Österreich, der den Deutschen Krieg offiziell beenden sollte:
Nikolsburg, 1. August 1866 – Mein lieber Bill, […] Ich hätte so gern mit angesehen, wenn Du so plötzlich 14 Jahre alt wirst, mit Einem Ruck um 1 Jahr älter und verständiger. […] Ich habe viel Arbeit gehabt, und noch mehr steht bevor. Der Friede mit Österreich ist so gut wie fertig; nachdem es uns den Platz in Deutschland geräumt hat, haben wir es glimpflich behandelt; Holstein und 40 Millionen Thaler, wovon 20 für Gegenforderungen abgehn. […] Dein treuer Vater v. B.
Nach dem Abitur im März 1869 begannen Wilhelm und Herbert im Sommersemester in Bonn das Studium der Rechtswissenschaft und traten dem Corps Borussia Bonn bei, einer Studentenverbindung, der Mitglieder norddeutscher und ostelbischer Adelshäuser einschließlich der preußischen Königsfamilie angehörten. Das Studentenleben aber sollte zunächst nur von kurzer Dauer sein, denn beide nahmen bald ihren Militärdienst auf – mit dramatischen Folgen: Im Juli 1870 brach der Deutsch-Französische Krieg aus, Bill und Herbert wurden als Offiziere an die Front nach Lothringen verlegt. Einer ihrer Einsätze ist auf dem Gemälde „MARS-LA-TOUR den 16. August 1870“ verewigt, das im Bismarck-Museum Friedrichsruh zu sehen ist (eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse und des Gemäldes ist nachzulesen in unserem Kalenderblatt: MARS-LA-TOUR den 16. August 1870). Auch nach glücklich überlebter Schlacht – Wilhelm war vom Pferd gestürzt und sein Bruder verwundet – hörte der Vater nicht auf, sich zu sorgen:
Versailles, 24.12.70 – Mein geliebter Bill, […] ich hoffe Gott hat Dich bewahrt, und tut es ferner. Mit Deiner Kurzsichtigkeit bist Du selbst dazu weniger als Andere im Stande. Schreibe mir gleich wieder. Vor Neujahr hoffe ich beginnt doch noch die Beschießung von Paris. Wenn wir es haben, so bekommen wir wenigstens den größten Teil der Truppen frei, die man nun seit 3 Monaten davor festgenagelt hat. […] Dein treuer Vater v. B.
Wilhelm wurde inzwischen als Ordonnanzoffizier bei General Edwin von Manteuffel eingesetzt, den er auf den Winterfeldzug an die Schweizer Grenze begleitete. Seine späteren gesundheitlichen Schwierigkeiten wurden von der Familie auf die in dieser Zeit erlittene Kälte zurückgeführt. Der Vater teilte weiterhin seine politischen Sorgen mit ihm:
Vers[ailles], 20.2.71 – Mein geliebter Junge, […] Morgen erwarte ich 15 Unterhändler aus Bordeaux; bis zum 25. muss sich nun entscheiden, ob wir in den ersten Märztagen Frieden haben. Ich glaube, sie sind müde, aber Gott allein weiß es. […] Dein treuer Vater v. B.
Im Gegensatz zu seinem Bruder beendete Wilhelm nach dem Ende seiner Militärzeit 1873 sein Studium; 1878 legte er in Berlin das zweite juristische Staatsexamen ab und wurde Assessor in der Reichskanzlei. In dieser Phase schien es, als ob er ebenso wie Herbert dauerhaft zum engen Mitarbeiter des Vaters werden sollte. Auch kandidierte er erfolgreich als Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Reichspartei. 1879 trat er außerdem für zwei Jahre in die Verwaltung des Reichslandes Elsass-Lothringen ein, die von Edwin von Manteuffel – bei dem er zuvor gedient hatte – als Statthalter des Kaisers geleitet wurde. Der Vater verfügte damit über einen direkten Draht nach Straßburg:
Berlin den 5. Februar 1881 – Ein Industrieller, welcher Elsaß genau kennt, sagte mir in diesen Tagen ungefähr folgendes: Es sei Schade um Manteuffels vortreffliche Rede und um seine ehrlichen Bestrebungen. Er werde die Leute, zu denen er spreche, und die Honoratioren der Provinz, niemals gewinnen und wenn er mit Engelszungen redete, […] Das Element, welches wir gewinnen könnten und zum Teil schon gewonnen hätten, sei der Bauer und der kleine Mann auf dem Lande. […] möchte ich doch vertraulich hinweisen nach dem Satze, daß man sich Freunde machen soll mit dem ungerechten Mammon. Behandle dies nicht als einen amtlichen Auftrag, sonst würde ich Manteuffel direkt schreiben, sondern als väterliche Privatkorrespondenz, von der Du ihm aber, wenn Du es nützlich und gelegen findest, sprechen kannst. […]
In diesen Jahren, in denen er auch beruflich mit dem Vater eng verbunden war, schien Wilhelm dessen Lebensstil, zu dem gutes und sehr reichliches Essen gehörte, übernommen zu haben: 1880, mit 28 Jahren, wog er 118 Kilogramm, ihn plagten Gicht und Herzbeschwerden. Auf Anraten des persönlichen Arztes Otto von Bismarcks, Dr. Ernst Schweninger, absolvierte er eine zehnmonatige Diät, bei der er 27 Kilogramm abnahm. Wie tief seine Dankbarkeit für diese medizinische Betreuung gewesen sein muss, lässt ein Vorfall vier Jahre später erahnen: Wie der Historiker Otto Pflanze in der Biografie „Bismarck. Der Reichskanzler“ schildert, forderte Wilhelm den berühmten Physiologen Emil du Bois-Reymond von der Berliner Charité zum Duell. Dieser hatte Schweninger die Visitenkarte zurückgeschickt, nachdem er auf Bismarcks Wunsch Leiter der neuen dermatologischen Klinik der Charité und außerordentlicher Professor an der Berliner Universität geworden war. Der Professor aber weigerte sich, so Pflanze, mit dem Sohn des Kanzlers die Waffen zu kreuzen.
Mitte der 1880er-Jahre begann Wilhelm, sich beruflich langsam aus dem unmittelbaren Umfeld seines Vaters zu lösen. Seine Motive für diesen Schritt lässt ein Brief erahnen, den Ernst und Achim Engelberg in ihrer Familienbiografie zitieren. Darin schrieb Wilhelm über die Belastung, die sein Bruder Herbert durch die Arbeit für den Vater erfuhr: „Glaube mir, das Leben mit Papa und ein fortwährender verantwortlicher Verkehr mit ihm ist für jemand, der ihn liebt und Unbequemlichkeiten von ihm fernhalten will, ungeheuer aufreibend. Er verlangt einen kolossalen Nervenverbrauch.“
1885 heiratete Wilhelm seine Cousine Sybille von Armin, sie war die Tochter von Oskar von Armin-Kröchlendorff und seiner Frau Malwine, der Schwester Ottos. Das Paar bekam drei Töchter und einen Sohn. Die junge Familie zog zunächst nach Hanau, wo Wilhelm als Landrat amtierte. 1889 wurde er zum Regierungspräsidenten in Hannover berufen, 1895 erfolgte die Ernennung zum Oberpräsidenten von Ostpreußen. Anders als Herbert war es Wilhelm gelungen, seine Karriere auf eigene Füße zu stellen und den politischen Sturz des Vaters 1890 beruflich unbeschadet zu überstehen. Die Verbindung blieb dennoch eng. So begleitete er am 26. Januar 1894 zusammen mit Herbert den Vater ins Berliner Schloss, wo sie zusammen mit dem Kaiserpaar, Prinz Heinrich und dem König von Sachsen dinierten. Einige Monate später schickten Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst dann Wilhelm mit der Bitte an seinen Vater nach Friedrichsruh, die verbalen Attacken auf die Regierung zu unterlassen. Ihr persönliches Verhältnis blieb davon ungetrübt, wie der folgende Brief nahelegt. Wie in den ersten Schreiben rückte nun wieder das Private in den Vordergrund.
Friedrichsruh, 30.7.1895 – Lieber Bill, von Herzen wünsche ich Dir Glück zum Geburtstag; ich fürchte es ist schon der 43ste! […] ich vegetire in Frieden weiter, ziehe mich täglich an und aus und würde Freude an dem Fahren durch die gute Ernte in Schönau haben, wenn ich nicht für jeden Aufenthalt im Freien mit verstärktem Gesichtsreißen bestraft würde, trotz gutem Wetter. […] Man sagt eben, es sei angerichtet (7 p.m.), ich schließe mit herzlichen Grüßen an Sybille und die 3 Kinder. Dein treuer Vater v. B.
Wilhelm sollte seinen Vater nur um drei Jahre überleben. Er starb am 30. Mai 1901 an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs.
Quellen:
Bismarcks Briefe an seinen Sohn Wilhelm. Im Auftrage der Gräfin Wilhelm Bismarck herausgegeben von Wolfgang Windelband. Berlin 1922 (2. Auflage, die 1. Auflage erschien 1921)
Bismarck, Wilhelm (Bill) Otto Albrecht Graf von, Eintrag in: Deutsche Biographie
Otto von Bismarck, Eintrag in: Frankfurter Personenlexikon
Ernst und Achim Engelberg: Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute, München 2010
Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998
Jonathan Steinberg: Bismarck: Magier der Macht, Berlin 2012
Jochen Thies: Die Bismarcks. Eine deutsche Dynastie, München 2013