Christian Morgenstern. Ein Leben im Kaiserreich
Während die Gründung des Kaiserreichs vor 150 Jahren seit einigen Monaten für publizistischen Wirbel und wissenschaftliche Debatten sorgt, ziehen die Geburtstage anderer Kinder des Jahrgangs 1871 vergleichsweise geräuscharm vorüber. So ist zu Ehren Friedrich Eberts, des sozialdemokratischen Konkursverwalters des Deutschen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs und ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, am 4. Februar zwar eine Briefmarke erschienen. Und auch die Pädagogin Hildegard Wegscheider wird im September aus Anlass ihres 150. Geburtstages durch das Bundesfinanzministerium geehrt (und einer breiteren Öffentlichkeit damit überhaupt erst bekannt) werden.
Von diesen Beispielen abgesehen, bleiben die im Jahr Eins des Kaiserreichs geborenen Bürger hinter den Strukturgeschichten über ihren Staat eigentümlich verborgen – und zwar nicht nur als Gegenstand von Postwertzeichen, sondern auch in den meisten Podiumsgesprächen und historischen Neuerscheinungen, die vorrangig um Kaiser und Kanzler, Parlament und Verfassung, Emanzipation und Beharrung sowie Demokratie und Antiparlamentarismus kreisen.
Wer den Vorteil biografischer Zugänge für das Verständnis historischer Entwicklungen kennt, begibt sich eher auf die Suche nach Personen und wählt den Blickwinkel von „Arbeitswelt und Bürgergeist“ (Thomas Nipperdey) auf die zwei Jahrhundertschwellen zurückliegende Epoche. Durch den Reiz der Jahreszahlen drängt sich dabei – ganz gegen sein Naturell – ein stiller Zeitgenosse auf, den noch heute fast jeder kennt, zumindest ein wenig: Christian Morgenstern.
Der Dichter, Übersetzer und Aphoristiker wurde am 6. Mai 1871 wenige Monate nach der Reichsgründung geboren und starb am 31. März 1914 ein Vierteljahr vor dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo. Sein Leben umspannte somit die Friedensjahre des Kaiserreichs nahezu komplett. Und es barg atmosphärische Züge des „Machtstaats vor der Demokratie“ (noch einmal Nipperdey), die abseits von unserem Erinnerungsreservoir der politischen Kämpfe, wirtschaftlichen Großwetterlagen und der kanonisierten Namen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft oft marginalisiert bleiben: Skepsis gegenüber Großmannssucht und nationaler Pose, Zivilität und Höflichkeit, Kontemplation, philosophische und religiöse Sinnsuche, Witz, Selbstironie, Einsicht in die eigene Endlichkeit und Begrenztheit der Schaffens- und Willenskraft.
Diese Zurückhaltung eines Nicht-Wutbürgers fern von Revolutionsgelüsten oder Obrigkeitsergebenheit hat wenig mit den auch in gängigen Historiker-Erzählungen unterstützten Verengungen der populären Erinnerung an das Kaiserreich als militaristischem Obrigkeitsstaat mit unterdrückten Minderheiten und unfreiwilligen überseeischen Untertanen zu tun.
Diese Leerstelle erklärt sich vor allem aus den etablierten Logiken der historischen Darstellungen des Kaiserreichs vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, weniger aus den in der Regel weiterreichenden historischen Reflexionen der Autoren von Überblickswerken und noch weniger aus dem kulturgeschichtlichen Potential der moderaten Zeitgenossenschaft Morgensterns und anderer leiserer Geister seiner Epoche. Beim Blick auf die lieferbaren Ausgaben seiner Werke fällt auf, dass sein Œuvre oft auf den grotesken Humor reduziert wird. Es ist begrüßenswert, wenn ein Lyriker des Kaiserreichs vom Schulbuch bis zur illustrierten Anthologie noch heute präsent ist. Allerdings ist es mit Christian Morgenstern wie mit Wilhelm Busch: Man kennt die „Galgenlieder“ des einen und „Max und Moritz“ des anderen, aber schon der „Palmström“ oder die „Fromme Helene“ liegen jenseits der Grenzen des leicht verdaulichen Kanons.
Das ist schade, denn ein Blick in das Gesamtwerk ist in vielerlei Hinsicht lohnend und antiquarisch leicht zu erreichen. Sollten seltene Ausgaben vergriffen oder nur zu Sammlerpreisen zu haben sein, bietet die 2018 abgeschlossene Gesamtausgabe der Werke und Briefe in neun Bänden Abhilfe. Seit den ausgehenden 1970er-Jahren haben mehrere Generationen von Herausgebern das lyrische, epische und dramatische Schaffen Morgensterns sowie seine Aphorismen, kritischen Schriften und Briefwechsel zusammengetragen. Dabei wird ein Leben sichtbar, das nur schwer mit den gängigen und gegenwärtig umstrittenen Lesarten der Epoche einer ungebremsten Industriegesellschaft, eingeforderter Demokratisierung, Globalisierung und Kolonialismus in Deckung zu bringen ist. Und das, obwohl Morgenstern inmitten dieser Zeitströmungen lebte, sie rezipierte und direkter an den Ambivalenzen seiner Gegenwart teilnahm, als man gemeinhin über den Erfinder der die Zehlein faltenden Rehlein und des Schnupfens auf Opfersuche meint.
Nach einem abgebrochenen Nationalökonomie-Studium in Breslau tauchte der angehende Journalist 1894 ins Berliner Literaturleben ein. Ein Jahr später wurde sein erstes Buch veröffentlicht, der Gedichtzyklus „In Phanta’s Schloss“. Erst 105 Jahre später wurde durch die genannte Werkausgabe bekannt, dass Morgenstern etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen zu einem ganz realen Schloss gepilgert war. Seinem Freund Friedrich Kayssler schrieb er aus Friedrichsruh bei Hamburg, wohin rund um den 1. April 1895 Tausende zu Bismarcks 80. Geburtstag gereist waren: „Einzig schöner Tag! Ecce homo! Prost tausendmal, bin noch ganz weg.“ Der langsam in seinen eigenen Mythos entrückende Kanzler im Ruhestand zog also nicht nur säbelrasselnde Burschenschafter oder nationalistisch berauschte Kleinbürger an.
Von solchen hielt sich Morgenstern gern fern, was ein Nebeneffekt seiner krankheitsbedingten Wohnortswechsel war. Bis zu seinem Tod plagte ihn mehr als 20 Jahre eine Tuberkuloseerkrankung, von der er sich durch die beständige Suche nach verträglichen Luftverhältnissen Linderung erhoffte. Diese medizinisch begründete Unrast amalgamierte mit einem Epochengrundzug, den schon die Zeitgenossen erkannten, einer merkwürdigen allgemeinen Neurasthenie als Kehrseite der Moderne. Mit kleinem Gepäck eines Bücherkoffers durchquerte Morgenstern sein Leben, das in der brodelnden Hauptstadt des Kaiserreichs, öfter aber in Seebädern oder im Schwarzwald, zuletzt am häufigsten vor Alpenkulissen stattfand – und auch dort nicht zur Ruhe kam, wie er 1907 über seine Aufenthaltsorte notierte: „über jeden ist ein Fluch europäischer Zivilisation ausgegossen, von dem er vor hundert, ja vor fünfzig Jahren noch verschont war. Die entsetzliche Nüchternheit der letzten dreißig, vierzig Jahre kriecht einem überall nach, ja sie färbt auf einen selber ab: Man verhotellt zuletzt rettungslos.“
Dass bei den unzähligen Wohnortwechseln ein so umfangreiches Werk entstand, lag an dem gegen die Krankheit anarbeitenden Fleiß des Dichters und Übersetzers. Seiner Frau Margareta verdankt sich der Erhalt des Nachlasses. Das Paar hatte sich im Sommer 1908 am Hang des Rittner Horns oberhalb des Eisacktals kennengelernt. In dem malerisch in Bergwiesen gelegenen Gasthof Bad Dreikirchen wird noch heute in einem Bibliotheksraum an die Begegnung erinnert. Nur vier gemeinsame Jahre waren ihnen bis zu Morgensterns Tod beschieden. Die Witwe machte es sich über Jahrzehnte zur Aufgabe, über das Werk ihres Mannes zu wachen und die Rezeption durch autorisierte Veröffentlichungen zu beeinflussen.
Im Rahmen der Nachlasspflege erfolgte auch die späte Publikation eines Kinderbuchs, das in der unmittelbaren Zeit des Kennenlernens und der Brautwerbung in Südtirol und etwas später in Straßburg gedichtet und gezeichnet worden war. Mit „Klaus Burrmann der Tierweltphotograph“ schuf Morgenstern im Jahr 1908 ein illustriertes Manuskript über einen Fotografen, der unter allerlei Abenteuern die heimische Tierwelt ablichtete und schließlich zu diesem Zweck auch in die afrikanischen Kolonialgebiete des Kaiserreichs übersetzte: „Von Hamburg aus fährt Onkel Klaus/aufs weite, blaue Meer hinaus.“ Und geografisch nicht ganz sattelfest hieß es weiter: „Von Swakopmund mit Ochsenpost/von Deutsch-Südwest nach Deutsch-Südost“. Entgegen naheliegenden postkolonialen Vermutungen fand das zeitgenössisch aktuelle Bilder bedienende Werk aber keinen Verleger. War die Kolonialbegeisterung doch geringer als ex post angenommen, zumal nach dem blutigen Krieg in Deutsch-Südwestafrika und den sogenannten Hottentotten-Reichstagswahlen von 1907?
An der dichterischen Qualität lag es auch nach heutigem Leseeindruck gewiss nicht. Schon Morgenstern hielt über das Buch fest, „daß es bisher noch jedermann Vergnügen bereitet hat, sofern er nicht Verleger war und buchhändlerisch in Anspruch genommen werden sollte“. Diese werkgeschichtlichen Ambivalenzen wurden 1941 um eine weitere Dimension erweitert. Denn die späte Erstveröffentlichung rückte die Gedichtsammlung in einen Zusammenhang mit dem Kolonialrevisionismus des Nationalsozialismus, der sich in utilitaristischer Manier kultur- und literaturgeschichtlich aus der Vergangenheit bediente – oberflächlich betrachtet auch bei Christian Morgenstern, dessen zaghafter Humor trotz kaiserzeittypischer Redensarten der NS-Ideologie diametral entgegenlief, ja diese durch seine subtile Ironie regelrecht desavouierte.
Dass seine Dichtungen nicht nur seine Epoche, das zweite deutsche Kaiserreich, sondern auch die in anmaßend selbstbewusster Zählung als Drittes Reich firmierende NS-Diktatur um Jahrzehnte überdauern würden, hätte sich der Jahrgangsgenosse Heinrich Manns und Rosa Luxemburgs kaum ausmalen können, als er im Alter von nur 42 Jahren starb. Sein 150. Geburtstag ist ein schöner Anlass, einen der auffälligsten Unauffälligen unter den Literaten seiner Zeit neu zu lesen, gerade im Jubiläumsjahr des Kaiserreichs.
Im Aussichts – und Museumsturm der Bismarckhöhe in Werder/Havel erinnert das Christian Morgenstern Literaturmuseum an den Entstehungsort der berühmten Galgenlieder.