Die große Enttäuschung. Vortrag über das apokalyptische Denken der Marine von 1871 bis 1918
Dr. Sebastian Rojek eröffnete in seinem Vortrag im Schleswiger Prinzenpalais eine neue Perspektive auf die Geschichte der deutschen Marine. Der zentrale Begriff seiner Analyse war die Enttäuschung: Sie entstehe aus der Kollision positiv wahrgenommener Erwartungen mit Erfahrungen, die negativ erschienen. Durch die Analyse der Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung in den historischen Quellen werde sichtbar, wie über erfüllte und unerfüllte Erwartungen kommuniziert werde und wie sich diese Kommunikation in politische Prozesse übersetze.
Die Alltagserfahrung lehrt, so die Erläuterungen des jungen Historikers, der als akademischer Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Stuttgart arbeitet, dass Erwartungen und Enttäuschungen permanent auftreten. Erfüllt sich eine Erwartung, stabilisiert sich die Planung. Kommt es zur Enttäuschung, folgt eine Destabilisierung, die im besten Fall zu einer Neujustierung führt: Was geplant war, wird mit der Realität abgeglichen und angepasst. Bei der kaiserlichen Marine handelte es sich Rojek zufolge aber um eine Institution, die mit einer „Augen-zu-und-durch-Mentalität“ und „Gegenwartsschrumpfung“ auf Enttäuschungen reagierte: Ein einmal gefundenes Narrativ wurde trotz ausbleibenden Erfolgs weiterhin propagiert, aber die Erwartungen blieben unerfüllbar.
Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung benannte Rojek die Ernüchterung der Marineleitung nach den drei sogenannten Einigungskriegen und der Reichsgründung: Man hatte praktisch nichts dazu beigetragen. Unter Kaiser Wilhelm II. sollte ein massiver Flottenausbau verhindern, dass es in einem nächsten Krieg zu einem ähnlichen „Versagen“ kommt. Aber schon 1912 habe sich abgezeichnet, so Rojek, dass die Marine niemals die selbst formulierten wie in sie gesetzten Erwartungen würde erfüllen können: Einer Seeblockade durch Großbritannien hätte sie nichts entgegenzusetzen gehabt. Als im Ersten Weltkrieg tatsächlich die militärischen Erfolge auf See ausblieben, nahm die Marineleitung unter Alfred von Tirpitz einen Gedanken auf, der bereits im Deutsch-Französischen Krieg formuliert worden und damals auf den Widerstand der Kommandeure gestoßen war: Durch ihren Mut und ihre Bereitschaft, auf See in den Tod zu gehen, eröffne die Marine dem deutschen Volk überhaupt erst den Weg in eine strahlende Zukunft. Dieses apokalyptische Denken war keine neue Erfindung, wie Rojek aufzeigte, sondern es reicht ideengeschichtlich bis in die Antike zurück und ist als verklärende Heldengeschichte in vielen Kriegen zu finden. Im Ersten Weltkrieg waren es nun nicht die Kommandeure, die sich weigerten, ihren Untergang selbst zu inszenieren, sondern die Matrosen, die gegen eine militärisch völlig sinnlose Selbstopferung meuterten.
Wie Rojek anschließend darlegte, hielt die Marineleitung trotz aller Erfahrungen – einschließlich des verlorenen Kriegs – an dem apokalyptischen Denken fest. So überdauerte nicht nur die Marine als Institution die Systemwechsel von 1919 und 1933, sondern auch die Uneinsichtigkeit in das eigene Unvermögen, für Deutschland einen Krieg zu gewinnen. Hitler habe den damit verbundenen Willen zur Selbstopferung, mit der das Volk gerettet werden sollte, zu schätzen gewusst, so Rojek, die Marine zum Vorbild für die anderen Waffengattungen erklärt und Großadmiral Karl Dönitz zu seinem Nachfolger als „Reichspräsident“ bestimmt.
Der Vortrag, zu dem die Otto-von-Bismarck-Stiftung und das Landesarchiv Schleswig-Holstein gemeinsam eingeladen hatten, stieß auf reges Interesse und provozierte einige Nachfragen vor allem zur Uneinsichtigkeit der Marineleitung: Es habe keine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern und Erwartungen gegeben, betonte Rojek unter Hinweis auf die Quellenlage, weil man gemeint habe, politisch so unter Druck zu stehen, dass jede offene Diskussion die gesamte Legitimation der Marine infrage gestellt hätte. Die Folge sei ein völliges Scheitern gewesen.