Einsame Männer auf einsamen Inseln oder wie Kokosnüsse in Neulauenburg zum Tod führen konnten
Von Ulf Morgenstern
Zugegeben, erst wollten wir uns aus der kurz aber heftig geführten Debatte über den neuen Roman von Christian Kracht heraushalten. Aber die Stoffgrundlage zwingt eine zumindest schelmische Beschäftigung mit dem anhaltenden Interesse am Mythos „Deutsche Südsee“ geradezu auf.
Das gilt auch und gerade weil die heutige Rezeption des Sujets zwischen überkommenen Stereotypen und unvoreingenommen Einsichten der „neuen Kolonialgeschichte“, der „post-colonial-history“ sowie der allgemeinen Kultur- und Sozialgeschichte osziliert und völlig uneinheitlich ist.[1] Und dann brachte der Spiegel auch noch eine kurze Reportage über einen unbekleideten Japaner, der seinen wohlverdienten Ruhestand unter tropischer Inselsonne im Freien verbringt! Wegen all der schönen Assoziationen aus dem Bilderkreis von Sonnenbrand, Kokosnuss und dem Rilkeschen Imperativ: „Du musst dein Leben ändern“, sei hier noch einmal eine faszinierend-befremdliche Facette deutscher Kolonialgeschichte nacherzählt, die nur wegen der jüngst wieder intensiv diskutierten Zustimmung Bismarcks zum deutschem Kolonialerwerb möglich wurde. Und sich dann zwei Jahrzehnte nirgendwo anders als auf einer Insel der „Neulauenburggruppe“ ereignete und ihren wichtigsten Protagonisten mehrfach in das Bezirkskrankenhaus von „Herbertshöhe“ brachte! Detailliert beschrieben hat den einzigartigen (Kokos-)Holzweg in eine leuchtende Zukunft der Wuppertaler Dieter Klein.[2] Golf Dornseif, ein weiterer Kenner der Vita des Nürnberger Exzentrikers August Engelhardt, hat eine anregend illustrierte Beschreibung der kokovorischen Irrungen und Wirrungen Engelhardts verfaßt, die online nachzulesen ist.
Als erster war jedoch Dieter Klein auf Engelhardts melanesischen Lebensabschnitt aufmerksam geworden. Er war aus philatelistischer Sicht zunächst fasziniert von einer für 25 DM erstandenen Postkarte aus dem Jahr 1904, auf der ein unbekannter Ausgewanderter aus der Südsee nach Deutschland schrieb: „Wir leben hier permanent nackt und genießen fast nur Früchte, vor allem die heilige Kokosnuß. Was sind die Städte: Friedhöfe des Glücks und Lebens, gegen mein palmengeschmücktes, ozeanumbraustes, sonnendurchglühtes Eiland?“[3] Im Laufe seiner Recherchen verwoben sich einzelne Fäden zu einem merkwürdigen Knäuel, das im Tod des tragischen Helden auf seiner Sonneninsel mündete. Begonnen hatte das Abenteuer Engelhardts im Jahr 1902, als der aus Nürnberg stammende Aussteiger mit pharmazeutischen Kenntnissen in die Südsee aufbrach. Schon zu diesem Zeitpunkt voller lebensreformerischer Ideen von befreiender Nacktheit und heilender Fleischlosigkeit kaufte Engelhardt eine Kokos-Plantage auf der Insel Kabakon. Das Eiland gehörte zum Bismarckarchipel, die nächst größere Insel hieß nach dem seit 1871 teilweise in Bismarckschem Besitz befindlichen, ehemals dänischen Herzogtum „Neu-Lauenburg“. Schon in den ersten Monaten der Ankunft und des Einrichtens in seinem Tropenparadies beargwöhnten ihn seine deutschen Mitbürger in der Kolonie. Engelhardt kümmerte sich wenig bis gar nicht um die Plantage, sondern verbrachte seine Tage leicht- bis unbekleidet mit süßem Nichtstun. Außer Kokosnüssen nahm der fränkische Asket nichts zu sich und die Mangelernährung ließ sein erhitztes Philosophieren schon bald zum reinsten Irrlichtern werden. Tropenprofis in seiner Nachbarschaft zweifelten schon früh an seinen Geisteskräften: „In zwei Jahren landet der Mann im Irrenhaus, wenn er so weiter lebt […]“, urteilte etwa der deutsche Regierungsarzt Dempwolff ahnungsvoll.
Engelhardts schriftliche Auslassungen aus dieser Zeit zeigten in der Folge, wie recht der kaiserliche Schulmediziner hatte. Die später bei Engelhardt diagnostizierte unheilbare Paranoia kündigte sich bald mit Macht an, als der Sonderling seine Lehre des Kokovorismus entwickelte. Nach der war die am weitesten der Sonne entgegengereckt wachsende Kokosnuss die alleinseligmachende Nahrungsquelle für den Menschen, ihr anti-solares Gegenstück, die Kartoffel, brachte hingegen Verderben. Außer der Nussnahrung gehörten aber noch mehr Ingredienzien zum kokovorischen Heilsbrei. Der normale Nahrungsweg über den Magen war für Engelhardt eine unreine Illusion, vielmehr ernähre sich der Mensch von Sonnenkraft, die über die Haarwurzeln aufgenommen werde. Engelhardts Credo war bestechend einfach: „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott.“[4] Das Tragen von Kopfbedeckungen war für ihn daher ein unhaltbarer Frevel. Die Folgen aus diesem Bekleidungs-Leichtsinn, gepaart mit der ernährungsphysiologisch-fatalen Kokosdiät und seinen mitgebrachten religiös-lebensreformerischen Idealen schufen einen Geistes- und Bewußtseinszustand, der tödlich enden sollte. Und zwar nicht nur für Engelhardt selbst.
Sein Sendungsdrang lockte bald Nachahmer an, die den Vollmundigkeiten in den Anzeigen Engelhardts in diversen lebensreformerischen Zeitschriften vertrauten. In dem breiten Spektrum der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Lebensreformbewegung(en) kreierte Engelhardt mit seinem vegetarischen Nudismus à la Kabakon eine neue Spielart aus Freikörperkultur und Ernährungsreform.[5] Zum naturnahen Nacktsein und der pflanzlichen Ernährung, zwei wichtigen Säulen des Reformgebäudes[6], kam noch des Hauch des Exotismus durch die Umsetzung der Ideen unter der Sonne der Tropen. Engelhardts Robinsonade auf der seit dem 19. Mai 1885 zum neuen „Bismarckarchipel“ gehörenden Insel Kabakon[7] endete also bald mit der Ankunft der ersten vom ihm geworbenen Sonnenanbeter.
Der erste Kokosjünger stammte zwar von einer Insel, war den sonstigen Bedingungen auf Kabakon aber offenbar nicht gewachsen: Sechs Wochen nach seiner Ankunft war der 24jährige Helgoländer tot. Engelhardt konnte das aber nicht irre machen. Sein nächster Kommunarde war ein zeitgenössischer Prominenter. Den Kapellmeister, Klavier- und Geigenvirtuose Max Lützow führte eine Sinnsuche nach Kabakon und noch nach zwei Monaten war er restlos begeistert. Seine idealisierten Beschreibungen des Eilands in der „Vegetarischen Warte“ verfehlten ihre Wirkung nicht: Engelhardts Insel wurde das Ziel etlicher Aussteiger mit fleischlosen Outdoor-Gelüsten. Allerdings hielten die Wunschvorstellungen von einem harmonischen Leben in einer tropischen Urgemeinschaft den Realitäten auf Kabakon nicht stand. Enttäuscht, ausgezehrt und krank verließ ein Kokovore nach dem anderen die Insel. Zuletzt war im Februar 1905 auch Lützow so malade, dass er fluchtartig die Insel verließ. Zu seinem Unglück geriet er mit seinem Segelboot in einen Monsunsturm, kenterte und verstarb kurz nach seiner Rettung.
Engelhardt selbst blieb eisern und kaute weiter Fruchtfleisch. Und das Schicksal schien ihm mit der Ankunft August Bethmanns zunächst recht zu geben. Der Naturschriftsteller war ein alter Bekannter des Sonnenapostels und rührte nun gemeinsam mit diesem die Werbetrommel. Als Engelhardts abgemagerter Körper zunehmend einen Zustand Transzendenz erreichte – er wog bei 1,66 m Körpergröße gerade noch 39 Kilo, wurde es Bethmann bange und er zwang seine missionarischen Freund zur Einlieferung ins Krankenhaus in Herbertshöhe. Die Ärzte hatten zunächst wenig Hoffnung, päppelten den Krätze- und wohl auch Leprakranken aber mit Medizin und Fleischbrühe wieder auf. Kaum konnte der Patient aber wieder auf eigenen Beinen stehen, verließ er das Hospital und beschimpfte seine Retter wegen angebllicher Mordversuche durch die Gabe von nichtpflanzlicher Nahrung. Selbst der Kokovore Bethmann wollte seinen wirren Meister nun nicht mehr um sich haben und entschloß sich Kabakon zu verlassen. Im Juni 1906 konnte er diesen Plan aber nicht mehr umsetzen, denn er starb noch auf der Insel. Dieter Klein berichtet von einem Gewalthintergrund, Engelhardt soll in heftigen Streit mit Bethmann geraten sein, bei dem es nicht nur um die kokovoren Ideale, sondern auch um Bethmanns weibliche Begleitung gegangen sein soll.
Erneut blieb Engelhardt bei seinen Plänen, konnte aber keine neuen Jünger mehr zum Verlassen Europas bewegen. 1909 gab er den Orden auf, stellte zur Bewirtschaftung der Plantage einen geschäftsführenden Teilhaber ein und wirkte fortan als Privatgelehrter. Der selbsternannte Philosoph war in Deutschland in der Zwischenzeit eine Bekanntheit geworden und die (wenigen) Südseereisenden machten nun gelegentlich einen Abstecher nach Kabakon, um den merkwürdigen Heiligen zu sehen. Im Ersten Weltkrieg war er kurzzeitig interniert, konnte sich dann aber – längst nicht mehr Eigentümer der Plantage – auf Kabakon botanischen Studien widmen. Diese blieben auf Laienniveau und waren von vornherein wohl nicht biologisch- oder pharmazeutisch-wissenschaftlich motiviert, sondern speisten sich aus Engelhardts übersinnlicher Suche nach unbekannten Heilkräften. Diese scheint er nicht gefunden zu haben, denn im Mai 1919 starben kurz nacheinander Engelhardt und sein Teilhaber. Der letzte Besitzer der Planatge warf den größtenTeil des Engelhardtschen Besitzes ins Meer.
Bei Christian Kracht lebt der Kokophage (Kokosesser) noch weiter bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Er erlebt das Ende des europäischen, nicht nur des deutschen Kolonialismus und man fragt sich in einem Hang zu kontrafaktischer Geschichtsschreibung, wie der mittlerweile 80jährige ehemalige Nürnberger Apotheker die Welt dann wohl gesehen hätte. Nach einer Million verzehrter Kokosnüsse und fünf Jahrzehnten höchster Luxdosen auf das ungeschützte Haupt… Stoff für das Weiterspinnen seines Lebens drängt sich gerade zu auf, so dass Krachts Roman nicht der letzte sein wird[8], der sich mit diesem Exzentriker beschäftigt.
07. Mai 2012
[1] Siehe zu erstem etwa den maßlos überzogenen Verriss des Krachtschen Romans durch Georg Diez, Die Methode Kracht, in: Der Spiegel 7 (2012), S. 100 – 103. Partei für Kracht nimmt Cornelius Tittel, Wie man aus Christian Kracht einen Nazi macht, in: Die Welt vom 17. Februar 2012, ein. Abgewogen urteilt auch Christopher Schmidt, Die Ritter der Kokosnuss, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2012, S. 11.
[4]
Horst Gründer, Die historischen und politischen Voraussetzungen des deutschen Kolonialismus,
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