Zum Tode von Professor Dr. Lothar Gall am 20. Juni 2024

Lothar Gall (m.) hatte im April 2013 als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Otto-von-Bismarck-Stiftung zu einer Herausgebersitzung zur Neuen Friedrichsruher Ausgabe (NFA) in die Frankfurter Gesellschaft eingeladen (links von ihm Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, rechts Prof. Dr. Holger Afflerbach).

Am 14. November 1994 unterzeichnete Bundesinnenminister Manfred Kanther einen Erlass über die Errichtung einer Otto-von-Bismarck-Stiftung. Unter § 4 sah der Erlass die Bildung von zwei Organen vor, einen Vorstand und einen von ihm zu berufenden wissenschaftlichen Beirat, der den Vorstand „bei der Erfüllung der Stiftungsaufgaben“ beraten sollte.

Obwohl der Vorstand seiner Aufgabe bereits im Frühjahr 1995 nachkam, fand die konstituierende Sitzung des siebenköpfigen Beirats mit Lothar Gall, Klaus Hildebrand, Friedrich P. Kahlenberg, Henry Kissinger, Eberhard Kolb, Werner Knopp und Joseph Rovan erst zwei Jahre später statt. Öffentlicher Gegenwind hatte den Gründungsprozess der Stiftung mittlerweile erheblich gestört.

Um die rechtlich unselbstständige Stiftung auf ein finanziell gesichertes Fundament zu stellen, begann der Deutsche Bundestag im Frühjahr 1996 mit den Beratungen über ein Gesetz, das die Stiftung in eine selbstständige Institution des öffentlichen Rechts umwandeln sollte. Verabschiedet wurde das Errichtungsgesetz jedoch erst am 5. Juni 1997, in Kraft treten sollte es nach der Unterzeichnung durch Bundespräsident Roman Herzog am 23. Oktober.

Überschattet von den kontroversen und zum Teil hitzig geführten Debatten im Parlament wie in der Öffentlichkeit, erfolgte die konstituierende Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 11. April 1997. Als wichtigster Tagesordnungspunkt stand die Ernennung eines Vorsitzenden auf dem Programm. Die Wahl Lothar Galls dürfte weder im Bundesinnenministerium noch im Beirat für Überraschung gesorgt haben. Seit dem Erscheinen seiner Bismarck-Biografie 1980 galt der Frankfurter Neuzeithistoriker, der bereits seit 1987 in die Planungen des BMI um die Errichtung der Bismarck-Stiftung eingeweiht war, als der international renommierteste Bismarck-Experte. 1990 hatte er diesen Ruf durch die wissenschaftliche Leitung der großen Ausstellung „Bismarck – Preußen, Deutschland und Europa“ unter dem Dach des Martin-Gropius-Baus in Berlin untermauert. Als Herausgeber der Historischen Zeitschrift, Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und Mitglied zahlreicher weiterer geschichtswissenschaftlicher Vereinigungen galt Lothar Gall zudem als der einflussreichste Vertreter seiner Zunft in Deutschland.

Das Fundament für sein Renommee als international führender Bismarck-Biograf hatte er gewiss 1980 gegossen, war es ihm damals doch gelungen, der Geschichtswissenschaft einen Ausweg aus der Sackgasse von blinder Bewunderung und polemischer Verdammung Bismarcks zu eröffnen. Souverän zwischen der Scylla heroisierender Verklärung und der Charybdis dämonisierender Ächtung hindurchsteuernd, beschrieb Lothar Gall den preußisch-deutschen Staatsmann als einen „weiße[n] Revolutionär“, der die Modernisierung des Hohenzollernreiches energisch vorantrieb, obwohl er dessen monarchische Strukturen konservieren wollte. Am Ende vermochte Bismarck die Kräfte, die er gerufen hatte – einem Zauberlehrling gleich – nicht mehr zu bändigen.

Nur eine Woche nach dem Inkrafttreten des Gesetzes nahm der Wissenschaftliche Beirat am 31. Oktober 1997 seine Arbeit auf. Ausführlich diskutierte er unter der Leitung von Lothar Gall die weiteren Vorhaben, insbesondere die Herausgabe einer Neuen Friedrichsruher Ausgabe der gesammelten Werke Otto von Bismarcks. Für den Herbst 1998 nahm der Beirat aus Anlass von Bismarcks 100. Todestag eine öffentliche Auftaktveranstaltung und eine erste wissenschaftliche Konferenz in Aussicht.

Als Lothar Gall 2016 nach mehrfachen Wiederbestellungen in den Beirat und Wiederwahlen zu dessen Vorsitzenden von der Fortsetzung seiner Tätigkeit absah, konnte er auf ein höchst ertragreiches Wirken im Dienst der Otto-von-Bismarck-Stiftung zurückblicken. In zahllosen Sitzungen in Friedrichsruh oder in der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft hatte der Beirat unter seiner Ägide das wissenschaftliche Profil der Stiftung durch mannigfache, nicht selten von ihm selbst geleitete Konferenzen, durch Publikationen der Wissenschaftlichen Reihe und insbesondere durch die Edition der Neuen Friedrichsruher Ausgabe geschärft.

Für sein jahrzehntelanges Engagement ist die Otto-von-Bismarck-Stiftung Herrn Professor Dr. Lothar Gall zu großem Dank verpflichtet. Sein Wirken als Ratgeber und Förderer bleibt ihr in dankbarer Erinnerung.