Anmerkungen zum Buch von Katja Hoyer „Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871-1918“

Reichstagseröffnung durch Kaiser Wilhelm I. (25. Juni 1888), Lichtdruck auf Karton, Photographische Gesellschaft, Berlin, um 1895, nach einem Gemälde von Anton von Werner, 1893 (Reproduktion: Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

„Man darf schon jetzt sicher sein, dass das Buch […] die Kaiserreichsbewacher unter den Professoren auf den Plan ruft“, notierte Marc Reichwein jüngst in einem als „polemisch“ deklarierten Zeitungsartikel über Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt (Welt am Sonntag, 7. Januar 2024). Gemeint war das Buch „Im Kaiserreich“ von Katja Hoyer, das dem Werbetext des Verlags zufolge die Geschichte in einer „einzigartigen Erzählung […] auf brillante Weise zum Leben erweckt“. Die als „renommierte Historikerin“ vorgestellte Autorin wurde 1985 in Guben geboren, studierte Geschichte an der Universität Jena und schloss das Studium mit einem Master of Arts ab. Seit ihrem Umzug nach Großbritannien arbeitet Hoyer als Journalistin und, laut Verlagsangabe, als Visiting Research Fellow am King’s College London sowie als Fellow der Royal Historical Society. Furore machte sie mit ihrem 2023 veröffentlichten Buch „Beyond the Wall. East Germany 1949-1990“, eine Geschichte des Lebens in der DDR aus Sicht der „normalen“ Leute. In Großbritannien rasch zum Bestseller avanciert, verkaufte sich auch die deutsche Übersetzung „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“ sehr gut, löste aber in Historikerkreisen massive Kritik aus. Ebenso könnte es Hoyer mit der jetzt erschienenen deutschen Fassung ihres 2021 unter dem Bismarck entlehnten Titel „Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871-1918“ publizierten Buches über das Kaiserreich ergehen.

Wer die deutsche Ausgabe zur Hand nimmt, dürfte sich zunächst über die weniger martialische Titulatur wundern und dann über die fünf eigenwillig komponierten Kapitel: Nach „Aufstieg 1815-1871“ folgen „Bismarcks Reich 1871-1888“, „Drei Kaiser und ein Kanzler 1888-1890“, „Wilhelms Reich 1890-1914“ und „Die Katastrophe 1914-1918“. Begann der Aufstieg des Kaiserreiches, so fragt sich der Leser unwillkürlich, tatsächlich bereits 1815? Und endeten das Bismarck- bzw. das Wilhelm-Reich wirklich 1888 bzw. 1914?

Ob des knappen Raumes des Werks nur zu verständlich, durchschreitet die Autorin das ‚kurze‘ deutsche Jahrhundert mit großen Schritten, verharrt aber an einigen Stellen überraschend lang, etwa wenn sie Bismarcks berühmtes Duell mit Georg von Vincke 1852 auf fast einer Seite abhandelt (S. 43f.). Fragwürdiger als derartige kompositorische Details wirken indes einige der im- oder explizit formulierten Thesen Hoyers. Nachdem sie schon 1813 im Zuge der antinapoleonischen Kriege „das fast schon zwanghafte Muster des deutschen Strebens nach nationaler Einheit“ glaubt erkennen zu können (S. 17), erhebt sie den Sieg über den Kaiser der Franzosen und den Wiener Kongress 1815 zu einem „bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte des aufkeimenden Deutschen Reiches [sic!]“ (S. 23). Denn der „Geist eines defensiven Nationalismus“ habe sich „fest verwurzelt“ und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches den Weg geebnet (S. 24). An anderer Stelle aber vertritt Hoyer unter Hinweis auf die Rheinkrise von 1840 die Ansicht, dass die Vereinigung Deutschlands weniger durch die „ideologische, kulturelle und wirtschaftliche Verschmelzung“ denn durch die Bedrohung von Seiten des „deutschen Erzfeinds Frankreich“ forciert worden sei (S. 31).

Seit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 sieht Hoyer die Geschichte Deutschland durch den „Aufstieg des verrückten Junkers“ Otto von Bismarck mitgeprägt (S. 40). Obwohl König Wilhelm I. nach seiner Thronbesteigung 1861 zunächst glaubte, politisch nicht auf die „erzkonservative Bulldogge von einem Junker“ bauen zu können (S. 47), ernannte er ihn nur gut ein Jahr später zum preußischen Ministerpräsidenten und geriet seither nach Meinung Hoyers in dessen „völlig[e]“ Abhängigkeit (S. 49). Hoyer würdigt Bismarck als „vielleicht einen der geschicktesten Staatsmänner aller Zeiten“ (S. 10) und „Archetyp eines Realpolitikers“ (S. 50) ohne „jegliche politische Moral“ (S. 51). Obwohl er ihres Erachtens „kein deutscher Nationalist“ (S. 8) war, habe Bismarck nach der Übernahme der Regierungsverantwortung „beschloss[en], einen brandneuen Nationalstaat im Gefechtsfeuer der Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zu schmieden“ (S. 9). Nach den Siegen über Dänemark und Österreich brach er „den französischen Widerstand und das süddeutsche Zögern“ mit nur einem „raffinierte[n] Schachzug […] auf einen Schlag“ (S. 57): der sogenannten Emser Depesche, die Frankreichs Kaiser Napoleon III. „keine andere Wahl“ ließ, als Preußen den Krieg zu erklären (S. 61).

Abgesehen vom Aufkommen „eine[r] weitere[n] Welle des Antisemitismus [sic!]“ (S. 114) spielte Bismarck für Hoyer in der innen- und außenpolitischen Entwicklung des Kaiserreichs, sei es beim Kampf gegen die „Reichsfeinde“, bei der Sozialgesetzgebung oder der Bündnispolitik, stets die maßgebliche Rolle. Sogar das Legen der „Saat der Demokratie und des wirtschaftlichen Wohlstands“ schreibt sie ihm zugute (S. 12). Ganz grundsätzlich habe der Eiserne Kanzler exakt jene „autoritäre Vaterfigur“ verkörpert (S. 83), die die zersplitterte Nation benötigt habe. Allerdings sei er „kein deutscher Cäsar“ gewesen, denn „ohne die Zustimmung des Volkes über die Repräsentanten im Reichstag zu regieren“ sei ihm unmöglich gewesen (S. 89).

Zu Recht setzt Hoyer Bismarcks politischen Niedergang mit dem Dreikaiserjahr 1888 an. Entscheidend war für sie, dass der neue Kaiser Wilhelm II. die Lösungen des alten Kanzlers zur Einigung Deutschlands nicht akzeptiert habe. Anstatt „Deutsche gegeneinander aufzuhetzen“ (!), wollte Wilhelm II. „Kaiser aller Deutschen sein“ (S. 11). Zwar gelang es ihm 1890, Bismarck aufs politische Altenteil zu schieben, doch Kaiser aller Deutschen wurde Wilhelm II. nie. Auch sein Anspruch auf ein Persönliches Regiment blieb stets angefochten, weil seine „Kamarilla“ ihn „emotional ebenso wie politisch fest im Griff“ hatte (S. 165).

Gleichwohl drückte der Kaiser der Zeit Hoyer zufolge bis 1914 „seinen Stempel auf“ (S. 138). Wie Bismarck trug er ihres Erachtens dazu bei, „die Saat für das wirtschaftliche und demokratische Schwergewicht zu legen“, das Deutschland nun werden sollte (S. 13). Zugleich beseitigte er Bismarcks „Irrtum“, Deutschlands Ambitionen auf das „‚alte Europa‘“ zu beschränken, und öffnete mit dem Aufstieg zur Weltmacht eine „unwiderstehliche Quelle des kollektiven Nationalstolzes“ (S. 159).

Das schöne Bild des wilhelminischen Kaiserreichs, Hoyer verhehlt es nicht, besaß jedoch zahlreiche Risse: die aufkommende Arbeitslosigkeit in der Industrie, sinkende Einkommen in der Landwirtschaft, der „unterschwellige Antisemitismus“ (S. 147), aber auch die mannigfachen politischen Fehltritte des „Skandalkaiser[s]“ (S. 192). Ungeachtet des die Gesellschaft einigenden Bandes der „Vorliebe für Ordnung, Disziplin und Militär“ (S. 184) herrschte am Vorabend des Ersten Weltkrieges die weit verbreitete Hoffnung, „dass der politische Streit durch eine gesamtdeutsche Einheit überwunden werden könne“, womöglich „im Feuer eines Krieges“ (S. 191).

Von deutscher Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Waffenganges will Hoyer gleichwohl nichts wissen, erklärt ihn vielmehr als Folge einer „Kette von Ereignissen“ nach dem tragischen Attentat von Sarajevo (S. 203). Schon die Tatsache, dass Wilhelm II. Anfang Juli 1914 mit seinem Dackel „Hexe“ auf Nordlandfahrt ging, ist für Hoyer Beleg genug, dass der Monarch kein „blutrüstige[r] Kriegsherr“ gewesen sei, der den Weltkrieg herbeisehnte (S. 204). Nach der Erörterung des Kriegsgeschehens auf den Schlachtfeldern in Ostfrankreich wie auch an der Heimatfront und der Schilderung des Untergangs der Monarchie beendet Hoyer ihre „Kurze Geschichte“ mit einem Blick in die Zukunft fast theatralisch: „Vor dem Kontrast der bevorstehenden finsteren Zeiten wurde das Kaiserreich zu einem idealisierten Bild, das starr und perfekt im goldenen Bernstein des nationalen Gedächtnisses eingeschlossen blieb.“ (S. 255).

Auf ein breites Lesepublikum ausgerichtet, wird Hoyers inhaltlich kompakt und sprachlich flott daherkommendes Buch gewiss zahlreiche Leser finden. Aus wissenschaftlicher Perspektive überzeugt vor allem ihr entschiedenes Plädoyer gegen die „Sonderwegsthese“, derzufolge Deutschland im europäischen Vergleich einen einzigartigen Pfad gefolgt sei und „die Reise von Bismarcks Deutschland zu Hitler und dem Holocaust“ als „direkte Linie“ gedacht werden könne. Trotz aller Mängel, darin kann man Hoyer nur zustimmen, führte das Kaiserreich „Deutschland keineswegs unweigerlich in den Krieg und Völkermord“ (S. 71).

Diesem Haben steht in der Gesamtbilanz ihres Buches jedoch ein schwerwiegendes Soll gegenüber. Dazu gehören auch einige sachliche Unebenheiten bzw. Fehler: Bismarck trat dem Ersten Vereinigten Landtag 1847 nicht „nur“ deshalb bei, weil man ihn gebeten hatte, ein erkranktes Mitglied zu ersetzen (S. 41). Er wollte den Sitz und hatte ihn zunächst vergeblich angestrebt. Zu behaupten, Bismarck habe die Emser Depesche 1870 „an die Presse durchsickern“ lassen (S. 61), verlangt nach einer Präzisierung, welche Depesche gemeint ist: die von Heinrich Abeken über die Begegnung des preußischen Königs mit dem französischen Botschafter aus Bad Ems oder die zur Verwendung in der Presse formulierte Fassung Bismarcks? Nicht haltbar ist die Behauptung, Bismarck habe die Berliner Afrikakonferenz 1884 „abgehalten“ (S. 168). Denn abgesehen von der ersten und der letzten Plenarsitzung nahm der Reichskanzler an dem Treffen nicht teil. Des Weiteren trifft es nicht zu, dass sein Sohn Herbert 1886 „Außenminister“ wurde (S. 87), weil es im Deutschen Reich kein Außenministerium gab. Und schließlich: Der Rufname seines Vaters lautete nicht Karl, sondern Ferdinand (S. 40).

Abgesehen von diesen mehr oder weniger bedeutenden Fehlern beschweren den Rezensenten einige grundsätzliche Eigenarten des Buches. Den aktuellen Forschungsstand spiegelt das Werk in mannigfacher Weise nicht wider, was angesichts der sehr überschaubaren Literaturliste, in der nicht einmal Lothar Galls Bismarck-Biografie oder Thomas Nipperdeys „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“ Erwähnung finden, nicht verwundert. Zu den Defiziten zählen etwa semantische Ungenauigkeiten in Bezug auf zentrale Termini wie Demokratie und Demokratisierung oder Judenfeindschaft und Antisemitismus, aber auch die den aktuellen Wissensstand verzerrenden Darstellungen des Verhältnisses zwischen Wilhelm I. und Bismarck sowie der Kaiserproklamation in Versailles 1871 – die keineswegs „unter wildem Jubel in allen deutschen Staaten“ stattfand (S. 63) – oder die Erklärung des Rufs nach Kolonien mit dem Wehler‘schen Diktum vom „Sozialimperialismus“ (S. 151). Das größte Problem der „kurzen Geschichte“ liegt zweifellos in der quasi teleologischen Konstruktion der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts in Richtung auf das Kaiserreich einerseits und in der Bismarck zugeschriebenen Begründung einer „Tradition einer ‚Kanzlerdemokratie‘“ (S.82) andererseits. Fast wäre der Rezensent geneigt, Reichweins Diktum vom „Kaiserreichsbewacher“ in sprachlich korrekter femininer Form auf die Autorin zu übertragen.

 

Katja Hoyer
Im Kaiserrreich. Eine kurze Geschichte 1871 – 1918
Hamburg 2024